Vorträge von Herbert Schneider
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2001 (Anlass oder Veröffentichungsart nicht bekannt)

Recht und Sonderrecht

Der doppelte Boden des Rechtsdenkens und der Justiz


Im Jahr 1993 hat der Bundesgerichtshof in einem Verfahren wegen Rechtsbeugung gegen einen Richter der DDR einen ungewöhnlichen Schritt getan. Er wich nicht nur von der eigenen Rechtsprechung in Sachen Rechtsbeugung, wie sie in den Verfahren gegen NS-Richter vor allem des „Volksgerichtshofs“ entstanden war, ab, sondern bezeichnete sie darüber hinaus als Irrweg, der mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sei und bedauerte diese Fehlentwicklung. Mit der somit desavouierten alten Rechtsprechung hatte der BGH noch lange nach dem Ende der NS-Diktatur nicht nur die angeklagten Richter de facto der Verantwortung für unter schwerstem Missbrauch des Rechts begangene Verbrechen entzogen, sondern auch dem nationalsozialistischen. Staat, ungeachtet der völligen Unterordnung des Rechtswesens unter die unbeschränkte Staatsmacht und des Rechtsdenken unter die völkisch-rassistische Ideologie, die Qualität eines Systems, welches noch irgendwie „Recht und Ordnung“ gewährleistet, auf eine Weise zuerkannt, die auf jede Unterscheidung von Macht und Recht verzichtet und dem Begriff Recht seine eigenständige Bedeutung raubt.

Die Weichenstellung von 1993 erst hat – zusammen mit strafrechtlichen Regelungen des Einigungsvertrages – die praktische Möglichkeit geschaffen, gegen DDR-Richter Verfahren wegen Rechtsbeugung zu führen, sie besagt aber natürlich nichts darüber, ob die der „Grenzüberschreitung“ von einem Gericht der Bundesrepublik zu einer Tat im Rechtssystem der DDR innewohnenden Probleme richtig gelöst worden sind.

Die Befriedigung über diese Entwicklung wird dadurch getrübt, dass man warten musste, bis, völlig unvorhersehbar, nicht mehr die Verhinderung, sondern die Ermöglichung einer Verurteilung wegen Rechtsbeugung als eine Notwendigkeit erkannt wurde. Seit der vormaligen Rechtsprechung war im übrigen so viel Zeit vergangen, dass keine NS-Richter mehr vorhanden waren, auf die die neue Rechtsprechung hätte angewendet werden können. Auch ein Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit stand nicht mehr zu erwarten. Wenn man sich trotzdem über das Bekenntnisses der BGH freuen kann, weil das Gericht erstens der richtigen Rechtsanwendung zum Durchbruch verholfen und zweitens die Korrektur mit einem ungewöhnlich mutigen Bekenntnis zur eigenen Fehlbarkeit verbunden hat, so hieße es doch die ebenso historische wie stets aktuelle Brisanz des Themas verkennen, verzeichnete man das Ereignis nur in den Annalen der Justiz und ginge dann zur Tagesordnung über. Die Frage nach der Rolle des Rechts im Staat stellt sich nirgends schärfer als bei der Beurteilung eines abweichenden Systems und erst recht bei der Beurteilung von richterlicher Tätigkeit unter der Herrschaft abweichender Prinzipien oder des Unrechts. Die auftretenden Fragen erweisen sich als über die üblichen Probleme der Rechtsanwendung hinausgehend, nämlich als dem Rechtssystem, in dem man sich bewegt, logisch vorausliegend. Hinzu kommen die Probleme, die bei der politischen Strafjustiz und -gesetzgebung innerhalb eines Staates immer bestehen. Somit gibt es, auch wenn die zweite Welle einer Rechtsprechung, die sich mit Straftaten aus einem anderen System zu beschäftigen hat, fast völlig verebbt ist, genug Grund, sich über die grundsätzlichen Probleme systemübergreifender Rechtsprechung klar zu werden.

Mit dem Urteil des BGH sind einerseits außerordentliche Verfehlungen der Nachkriegs-Justiz angesprochen, die zwar Fachleuten bekannt waren, aber das Rechtsbewusstsein von Juristen, Politikern und juristischen Laien kaum beschäftigten. Zum anderen führt die Frage nach den Hintergründen jener Fehlentwicklung entgegen dem Strom der gegenwärtigen judikativen und legislativen Betriebsamkeit zu Problemen der Juristen-Mentalität, des gesellschaftlichen Bewusstseins, des methodischen Denkens und des Verhältnisses des Staates zu seiner unabhängig sein sollenden, aber nicht immer sein dürfenden Justiz. Wenn mit dem Erscheinen der neuen Linie der Rechtsprechung augenblicklich alle, die sich dazu äußern, damit einverstanden sind, muss man sich fragen, woran man eigentlich die richtige Anwendung des Gesetzes von der falschen unterscheiden kann. Die Einstellung vieler Praktiker, das jeweils Neueste auch als das Richtige anzusehen, ist für die Tagesarbeit zwar rationell, aber nicht rational. Es gibt, wenn man sich um diese Frage bemüht, einige Regeln, die dabei berücksichtigt werden können, etwa die der Negativität, also die Erkenntnis, dass die nicht zu beseitigende Unsicherheit, Gerechtigkeit positiv zu bestimmen, dadurch gemildert werden kann, dass Aussagen über das Gegenteil von Gerechtigkeit gleichwohl möglich sind. Auf einem ähnlichen Gedanken beruht Gustav Radbruchs Erwägung, ein Gesetz, das nicht einmal erstrebe, Gerechtigkeit zu schaffen, sei erkennbar gesetzliches und unverbindliches Unrecht. Solche Erwägungen sind in den Urteilen, die Rechtsbeugung und justiförmigen Terror  der Ahndung entzogen, nicht angestellt worden.

Die an das Urteil anschließenden Überlegungen führen sodann zu der Frage, in welchem Zusammenhang die von der früheren Rechtsprechung zu beurteilenden Taten standen. Man erkennt als erstes, dass für den BGH seinerzeit Justiz das war, was ein System so nennt, und dass Richter war, wer vom System als mit solcher Amtsbezeichnung eingesetzt wird. Dabei könne diese „Justiz“ genannte Institution – nach rechtsstaatlichen Grundsätzen – durchaus gravierende Mängel haben; man müsse sie aus der damaligen Zeit verstehen und dem damaligen Staat ein Recht auf Selbstverteidigung zugestehen. Die Mängel sind damit abgehakt; Konsequenzen haben sie nicht. Dass damit zugleich der Staat, wie unmenschlich sein System auch gewesen sein mag, als ein unverzichtbares, Sicherheit und Wohlfahrt gewährendes höheres Wesen anerkannt wird, demgegenüber ein Einzelner mit seinem Widerstand oder seiner Kritik allemal unterliegen muss, kann vielleicht auch erst im Abstand von Jahrzehnten als Ungeheuerlichkeit erkannt werden. Erst durch diese Prämisse „Justiz ist Justiz, Richter ist Richter“ konnten einem Mörder in Robe die Wohltaten eines auf Richter zugeschnittenen Privilegs zuteil werden, insbesondere das Erfordernis des unbedingten Vorsatzes, durch das Urteil Recht zu brechen. Bei der Feststellung dieses Vorsatzes müssen in der Regel Zweifel bleiben, die sich zugunsten des Beschuldigten auswirken: Eine diskrete Privilegierung, die rechtsstaatliche Skrupulosität vortäuschte und durchweg ihren Zweck erfüllte. Hier wird zudem ignoriert, dass das NS-Recht in großen Teilen, insbesondere das Strafrecht, erklärtermaßen ein Instrument der „Gegnerbekämpfung und -ausschaltung“ war und die meisten Verurteilungen und Urteilsbegründungen von der Realisierung und Perfektionierung dieser Absicht zeugen, ein Umstand, der auch für die Beurteilung des angeklagten einzelnen Rechtsbeugungsfalles Bedeutung hätte haben müssen. In den unter dem Vorwurf der Rechtsbeugung angeklagten Urteilen der NS-Justiz setzten die NS-Richter ein Zweckdenken in die Tat um, das nichts mit der klassischen teleologischen Auslegung zu tun hat. Ein Betroffener, der seine Tätigkeit als NS-Richter verteidigte, brachte die vormalige positivistische Sicht des BGH auf die berüchtigte Formel „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“.

Diese Entwicklung der Rechtsprechung ging mit einer ab etwa 1947 dominierenden Lehre einher, nämlich der von der rechtlichen Kontinuität des deutschen Staates über den Bruch von 1945 hinaus. Zugleich wurden Vorschriften aus der NS-Zeit durch anpassende Auslegung herübergerettet und die Anwendung des durch die Besatzungsmächte gesetzten Strafrechts mit menschenrechtlichem Horizont, nämlich das der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zurückgedrängt. Dabei berief man sich u. a. auf das Rückwirkungsverbot, das ein Signum des Rechtsstaats sei, vermied es aber, den Sinn für die explizite Ausschaltung des Rückwirkungsverbots im Besatzungsrecht zu diskutieren. Wenn somit Kontinuität als gegeben und keineswegs alles, was im NS-Staat geschehen war, a priori als falsch und verbrecherisch angesehen werden sollte, dann war in der Rechtsprechung de facto trotz der demokratisch-rechtsstaatlichen Landesverfassungen ab 1946 und trotz des Grundgesetzes ab 1949 ein fundamentaler Bruch zwischen altem und neuem System vermieden, der zu einer entsprechenden Neubesinnung gezwungen hätte. Die strafrechtliche Beurteilung der NS-Verbrechen, die eigentlich aufgrund der neuen verfassungsrechtlichen Lage über eine durch nichts zu überbrückende Systemgrenze hätte geschehen müssen, wurde daher durch Elemente der Kontinuität weitgehend abgemildert. Demgegenüber kam die Prüfung der Möglichkeit, die Taten des vormaligen Systems unter auch damals nicht zu leugnenden und nun in der Verfassung festgeschriebenen Prinzipien zu bewerten, kaum zum Zug. Nur die Anerkennung der Systemgrenze hätte die Verbrechen in die richtige Kategorie eingeordnet, nämlich in diejenige eines Lebensrecht und Menschenwürde per se verachtenden und Normen nur als Machtinstrumente gebrauchenden politischen Systems. Damit musste auch die entscheidende Frage nach etwaigen über dem totalitären Normenkomplex stehenden, durch keine positive Vorschrift zu derogierenden höheren Grundsätzen, wie sie auch im Strafrecht der Besatzungsmächte zur Geltung kamen, nicht gestellt werden.

Aber auch die auffallendste, allen totalitären Systemen gegebene Struktur konnte in den rechtlichen Erwägungen zum Systemunrecht respektiert  werden, nämlich die grundsätzliche immanente Doppelbödigkeit von Norm und Praxis, von geschriebenem Recht und überwölbender, die Auslegung und Fortentwicklung des Rechts bestimmender Ideologie. Es konnte zweierlei Morde geben, solche, die nach dem Strafgesetzbuch geahndet wurden und andere, von Staatsorganen befohlene oder geduldete und von Staatsorganen ausgeführte Morde, um die sich kein Staatsanwalt kümmerte. Vor allem bei der nachträglichen Bewertung von Volksgerichtshofs- und Sondergerichtsurteilen, von als Repressalmaßnahmen etikettierten Hinrichtungen und von Unterlassungen der Justizorgane bei staatlichen Tötungen hätte diese Erkenntnis eine Rolle spielen müssen. Und so soll es, nach einer heute noch vertretenen Meinung, auch zweierlei Richtersprüche gegeben haben: solche, die zwar gesetzwidrig und von der Parteiideologie diktiert, aber noch akzeptabel sind, und solche, in denen ein bestimmtes Maß des rechtlich Erträglichen überschritten ist. Die Einführung dieser nur vage zu umschreibenden Grenze zeugt von großer Ratlosigkeit.  Ist es eigentlich so schwierig, diese Doppelung der Ordnung in Recht und Ausnahme-„Recht“ als ein Widerspruch in sich, als eine Selbstaufhebung des Rechts zu erkennen?

Man kann jenen nun korrigierten Kurs der Rechtsprechung als eine Variante positivistischen Rechtsverständnisses bezeichnen: größtmögliche Anknüpfung an die Normlage zur Zeit der Tat (einschließlich Würdigung der Tat aus den Verhältnissen zur Zeit der Tat) und möglichste Vermeidung einer grundsätzlicheren Fragestellung. Mit der Übernahme dieser Normlage des alten Systems stellt sich die Frage nach etwaigem höherrangigen Recht – auch des neuen Systems – erst gar nicht.

Diese bundesrepublikanische Rechtsprechung schließt an eine ähnliche Entwicklung in der Zeit der Weimarer Republik an, die sich einerseits an der politischen Strafjustiz und zum andern an der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu den Kriegsverbrechen des I. Weltkriegs zeigt. Zunächst fällt allerdings ein Unterschied ins Auge. Die Justiz, die einen Unterschied zwischen Staatsfeinden von rechts und solchen von links machte, und damit ihre politische, ja verfassungsfeindliche Tendenz dokumentierte, knüpfte nicht an altes positives Recht, sondern „nur“ an das alte Vorverständnis des Rechts an. Dieses Vorverständnis zeigt sich nach der Niederlage von 1918 allerdings nicht etwa nur in einem Einklang mit dem herrschenden Geist des Ressentiments, das sich aus der als unverdient und unverschuldet angesehenen Niederlage (Dolchstoßlegende) und aus dem als unangemessen erachteten Preises für ein Ende des Krieges (Versailler Vertrag) wie auch der revolutionären (und als illegitim angesehenen) Geburt der Republik speiste. Es ist vielmehr darüber hinaus auch der Versuch, „deutsches“ Recht zu sprechen, Recht aus dem Volksgeist (des Historismus), Recht, das das Volk vor einer undeutschen Ordnung und vor undeutschen Einflüssen bewahrt. Politischer Mord von rechts war dieser Justiz somit eher nur formal ein Verbrechen, die gleiche Tat von links gefährdete aber die „heiligsten Güter“. Die Weimarer Zeit begünstigte auch die germanistische rechtshistorische Richtung (gegenüber der „undeutschen“ romanistischen), die dann 1933 ihre Zeit gekommen sah. Die Anknüpfung an das historisch gewordene und (nur) so legitimierte Völkisch-Deutsche ist allerdings eine Bezugnahme auf eine der Wurzeln des Positivismus. Der Historismus als Antwort auf die revolutionär umgesetzten universalistisch-menschenrechtlichen Ideen der Aufklärung mündete in den Positivismus des 19. Jahrhunderts, sodann in den Obrigkeitsstaat und schließlich in ein Streben nach konterrevolutionärer Wiederherstellung gefährdet erachteter deutscher Identität, um mit dem Bruch von 1933 an einen logischen Endpunkt zu kommen.

Somit zieht sich durch die Generationen und die Systeme eine Spaltung des Rechts in einen Teil, dem der Staat relativ neutral gegenübersteht, und einen Teil, in dem politische Tendenz den Vorrang hat und das Recht zum Instrument wird. Dabei war es weder in der Weimarer Republik noch in der Bundesrepublik die Exekutive, die diese reaktionären Tendenzen gesteuert hat, sondern es war, die sozusagen „unabhängige“, Justiz, die aus sich heraus wusste, was dem Volke nützt. Dass nach dem zweiten Bruch in der Entwicklung, dem von 1945, allen Ernstes von einer Besinnung auf das Recht vor der Diktatur, von einer Anknüpfung an gute deutsche Rechts-Tradition, gesprochen werden konnte (obwohl tatsächlich sogar an NS-Recht angeknüpft wurde), muss auf die Rechtsentwicklung der Bundesrepublik einen tiefen Schatten werfen. Die abermalige systemübergreifende Rechtsprechung muss genutzt werden, um dieses Dunkelfeld auszuleuchten. Mit der eingangs erwähnten Entscheidung des BGH von 1993 – und mit einigen anderen höchstrichterlichen Urteilen – ist das Problem nicht gelöst, aber es lässt sich in seiner Bedeutung für den Rechtsstaat deutlicher erfassen und grundsätzlicher diskutieren.




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