Vorträge von Herbert Schneider
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Fritz Bauer, die Verfolgung der NS-Verbrechen und die deutsche Rechtskultur

Vortrag von Herbert Schneider, gehalten am 26.01.2004 in Mainz

Seit einigen Jahren fällt es allenthalben leicht, von der Zeit des Nationalsozialismus offen als einer Zeit des Unrechts zu sprechen, ja den NS-Staat vorbehaltlos als Unrechtsstaat schlechthin und den Widerstand gegen ihn als legitim zu bezeichnen. Wie kam es zu diesem in langen Jahren entstandenen, heute fast selbstverständlich erscheinenden Konsens? Nicht dass zuvor das gegenteilige Geschichtsbild explizit geherrscht hätte. Vielmehr lebte man jahrzehntelang in einem Zustand der Unentschiedenheit. Er ließ Raum für Ressentiment und Verweigerung der einen und die politisch korrekte Deklaration der anderen Seite. Aber nicht nur dafür, sondern auch für eine allzu gemächliche Herangehensweise bei der Bewältigung einer einmaligen Aufgabe von gigantischem Ausmaß: der Verfolgung der NS-Verbrechen und dem Schadensausgleich für die verschiedenen Opfergruppen. Konsequenzen zugunsten eines entschiedeneren Vorgehens wurden nur nach und nach gezogen, als sie unumgänglich erschienen. Eine ganze Generation Unbelehrbarer durfte selig sterben und die nächste der Wahrheit sich in kleinen Schritten nähern. Waren wir befangen und worin? Hätte man nicht schon zur Zeit der Entstehung der demokratischen Verfassungen der Länder und der Bundesrepublik, die ein ideeller und rechtlicher Neuanfang sein wollten, die Aufgabe in ihrer ganzen Tragweite erkennen und sie angehen müssen? Haben wir es nun mit einer dauerhaften Einsicht zu tun, die unserer Gesellschaft die zu den Verfassungen passende Grundeinstellung nachliefert? Oder zeigt sich nur ein Pendelschlag an der Oberfläche der Mediengesellschaft?

Die beschriebene zeitliche Diskrepanz drückt für die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik eine Kluft aus zwischen Geist und Buchstaben der neuen Ordnung einerseits und dem gesellschaftlichen Bewusstsein andrerseits. Dieser Rückstand hatte eine ganz erhebliche Bedeutung für die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die Praxis der Exekutive in der jungen Republik, denn er bezeichnet nicht nur sich wandelnde Meinungen in der Bevölkerung und in den Medien, sondern er steht für diametral entgegengesetzte Grundauffassungen, die das Staatshandeln, zumal die Tätigkeit der Justiz zutiefst geprägt haben.

Bei der Besinnung auf diese Fragen stößt man unweigerlich auf Fritz Bauer, der als Generalstaatsanwalt erst in Braunschweig und dann in Frankfurt die geistige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit kraftvoll vorangetrieben und die Versuche juristischer Aufarbeitung des NS-Unrechts nachhaltig geprägt hat. Aus Anlass seines hundertsten Geburtstages im Jahr 2003 wurde in der Presse vor allem an den Remer-Prozess in Braunschweig (1952) und an den Auschwitz-Prozess in Frankfurt (1963 - 1965) erinnert. Die Gründe, sich mit Bauer und der Justizgeschichte der Nachkriegszeit zu beschäftigen, sind allerdings vielfältiger. Vorab soll jedoch der Abschnitt seines Lebens beleuchtet werden, in dem er dem drohenden Unheil einer Diktatur entgegentrat und, als sie Wirklichkeit geworden war, eines ihrer ersten Opfer wurde.

Fritz Bauer wurde in Stuttgart geboren. Sein Vater war ein gut situierter Textilgroßhändler. Nach den juristischen Examina und der Promotion trat er in den Justizdienst des Landes Württemberg ein und wurde Amtsrichter in Stuttgart. Politisch engagierte er sich in der SPD und im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Diese Organisation versuchte, dem braunen Terror etwas entgegenzusetzen. Sie bestand keineswegs nur aus Angehörigen der Partei Bauers. Ihr Name steht für die Verteidigung der Republik, deren an die demokratische Bewegung von 1848 erinnernden Farben von Nazis und Reaktionären verunglimpft und verspottet wurden.

Nach dem Machtwechsel im Reich vom 30. Januar 1933 vollzog sich die Gleichschaltung der Justiz der Länder so schnell, dass einige von Bauers Amtsrichter-Kollegen mit entsprechendem Parteibuch bereits zum württembergischen Justizministerium abgeordnet waren, als er, nur gut sieben Wochen nach dem Machtwechsel, nämlich am 23. März 1933, festgenommen wurde. Unter diesen Richtern war auch der später als Richter am Sondergericht Stuttgart berüchtigte Cuhorst, der im Nürnberger Juristenprozess freigesprochen wurde, weil niemand auf die Idee kam, seine aktenkundigen Morde im Württembergischen Staatsarchiv zu suchen.

Der Präsident des Amtsgerichts Stuttgart vermerkt über Bauers Festnahme am 28. März 1933 in den Akten:

»Am Freitag, dem 24. März ds Jahres wurde mir etwa um 9 Uhr von der politischen Abteilung des hiesigen Polizeipräsidiums fernmündlich mitgeteilt, dass Amtsrichter Dr. Bauer am Donnerstag Abend und Gerichtsassessor Kohler am Freitagmorgen in Schutzhaft genommen sei. Auf meine Frage, ob das Justizministerium hievon benachrichtigt worden sei, erhielt ich eine verneinende Antwort. Über die Gründe für die Verhaftung wurde mir nichts mitgeteilt. Gestern Nachmittag ... ist Gerichtsassessor Kohler wieder erschienen und hat mir mündlich berichtet, dass die Schutzhaft gegen ihn aufgehoben sei. Aus welchen Gründen er verhaftet worden sei, wusste er nicht anzugeben, eine Vernehmung habe nicht stattgefunden.« (Staatsarchiv Ludwigsburg F 304 II Bü 555).

Das Württembergische Justizministerium dekretiert am 25. April:

»Das Polizeipräsidium Stuttgart teilt unter dem 11.4.1933 mit:

I. „Gerichtsassessor Kohler hat dem Vorstand des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold angehört und hat sich im Reichsbanner vielfach als Redner betätigt. Er war vom 24. – 27. 3. 1933 in Schutzhaft und hat bei seiner Entlassung eine ehrenwörtliche Versicherung abgegeben, dass er künftig jeder Betätigung in marxistischen Kreisen sich enthalten werde.

II. Amtsrichter Dr. Bauer: Dr. Bauer hat jahrelang eine überaus lebhafte Tätigkeit für das Reichsbaner ausgeübt. Er war 1. Vorsitzender der Ortsgruppe Stuttgart und Mitglied des Gauvorstandes des Reichsbanners. Eine Entlassung des Dr. Bauer aus der Schutzhaft kann in den nächsten 4 Wochen nicht in Betracht kommen.“

Eine Weiterverwendung des Gerichtsassessors W. Kohler kommt nicht mehr in Betracht. Er ist daher aus der Bewerberliste gestrichen worden. Seine Dienstbezüge sind endgültig abzuschreiben. Amtsrichter Dr. Bauer wird aus dem Staatsdienst ausscheiden.« (Fundstelle w.o.).

Es war dies eine bürokratische, sofort reibungslos funktionierende, aber rechtswidrige Bekämpfung der Opposition gegen den Nationalsozialismus. Die sog. Schutzhaft, die schon vor dem Machtwechsel eingeführt worden war und nun zur Bekämpfung von demokratischen Regimegegnern missbraucht wurde, war ein brutales Druckmittel. Für das Reichsbanner, eine die Verfassung verteidigende Organisation, gearbeitet zu haben, ist in der Mitteilung des Ministeriums an die nachgeordneten Stellen eine ohne weiteres ausreichende Begründung für die Maßnahme. Den bereits auf Lebenszeit zum Richter ernannten Dr. Bauer hätte man nur in einem Disziplinarverfahren aus dem Dienst entfernen können, wozu er aber keine Handhabe gegeben hatte. Er blieb bis 1936 in verschiedenen Konzentrationslagern in Haft. Inzwischen war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen worden, durch das u. a. Angehörige des Reichsbanners und Juden wie Fritz Bauer ihre Rechte als Beamte bzw. Richter verloren. Ihm und seinen Eltern gelang die Emigration nach Dänemark und von dort später die Flucht nach Schweden. Nach dem Krieg arbeitete er bis 1949 in Dänemark. Er wurde dann in die niedersächsiche Justiz berufen, wo er 1950 Generalstaatsanwalt in Braunschweig wurde. Im Jahr 1956 wurde er hessischer Generalstaatsanwalt.

(Kampf um ein demokratisches Rechtswesen und Rechtsbewusstsein)

Bauers Leben war von Anfang bis Ende Kampf. Dass er nach dem Krieg für eine Gesellschaft kämpfte, der er in der Demokratie von Weimar nicht hatte näher kommen können, lag nahe. Aber dieses Volk glaubte auch jetzt - noch oder wieder - vor allem eines: dass es einen wie ihn nicht brauche. Einen, dessen Warnungen von ehedem berechtigt gewesen waren, der unbeirrbar damals und nun wieder peinliche Wahrheiten zu sagen hatte, einen Exilanten, einen Juden, einen Linken... Man hatte zwar – demokratisch ungeübt und kritischem Denken in wilhelminischen Generationen entwöhnt – entweder geirrt oder aber teils überzeugt, teils opportunistisch mitgemacht. Dass demokratische Gesinnung gerade darum immer noch fehlen müsse, wollte man sich nicht sagen oder sagen lassen.

Bauer kämpfte nicht für eine gesellschaftliche oder politische Gruppe oder eine Ideologie oder um Macht, nicht mit dem Ziel einer Entscheidung und möglichst bis zum Sieg über einen Gegner, sondern um den Menschen und um die Menschen, eingeschlossen diejenigen, die ihn zum Feind, zur Gefahr, erklärten. Die fast allgemeine Ablehnung war aufgefächert von politischer und publizistischer Diffamierung, ja Verdammung, über ein „Mauern“ im Justizapparat, bis hin zu brieflichen Schmähungen und Morddrohungen.

Dieser Kampf war Überzeugungsarbeit, Aufklärung, Erziehung und Versuch einer gemeinsamen Selbstüberwindung. Ein Versuch, bei dem Bauer letztlich allein blieb und ein einsames Ende nahm. Es war, um einen Begriff aus der Philosophie von Karl Jaspers zu gebrauchen, liebender Kampf.

Das Einmalige dieses Auftretens ist die Verbindung zweier Elemente, die sonst nur getrennt auftreten: Amtliches Wirken für den Staat in einer herausragenden Stellung, nämlich als oberster Ankläger eines Bundeslandes, und das öffentliche Wort, das rücksichtslose Fragen, das rückhaltlose Eintreten für eine menschliche Gesellschaft.

In der öffentlichen Auseinandersetzung wie im justizinternen Streit war er sich seiner Sache so sicher, dass er keine Abstriche machte, etwa um sich das Leben und Arbeiten zu erleichtern. Aber er war kein Fanatiker. Heute kann man sagen, man habe ihn damals nicht verstanden und nicht verstehen wollen, er habe aber auf dem Gebiet der juristischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Hinterlassenschaft Recht gehabt und behalten. Die 35 Jahre seit seinem Tod sind auf diesem Feld Jahre der Verifizierung seiner Überzeugungen, im Politisch-moralischen wie im Juristischen.

Die Bündelung seiner Energie und seiner Fähigkeiten in der publizistischen wie in der juristischen Arbeit stellt ein Phänomen dar. Menschen, die ihn kannten, berichten, alles sei aus Menschenliebe geflossen. Das mag irritieren, was nicht verwundert, haben wir doch mit real erfahrener, erlebter Menschenliebe auf der öffentlichen Bühne und in unserer Zeit kaum Erfahrungen. Und bis zum Ende des NS-Regimes hatte ohnedies ein informelles Verhaltensmuster geherrscht, das nicht von heute auf morgen aus den Gemütern verschwunden sein konnte und so umschrieben werden kann: Man sollte es mit der Menschlichkeit nicht übertreiben, vor allem aber, wenn überhaupt, ihr nur moderat und fein abgestuft nach rassischer Wertigkeit und nach Nützlichkeit für die „Volksgemeinschaft“ Raum geben, keinesfalls aber der „Humanitätsduselei“ verfallen. Dieses Schlagwort hatte in der Alltagsmoral seit dem I. Weltkrieg, in dem es erfunden worden war, Karriere gemacht und, wann immer nötig, von Rücksichten entbunden, die zu Hindernissen vor dem Erfolg werden konnten, ebenso auch entlastet von der Beachtung völkerrechtlicher Regeln, nach deren Einhaltung doch nur Verlierer, nicht Sieger, gefragt werden. Das Wort schmierte ab 1933 das staatliche Repressionssystem gegenüber den Bürgern und rechtfertigte die Belehnung der krudesten Kreaturen mit schrankenloser Gewalt im System von Schikane und Quälerei der Ausbeutungs- und Vernichtungsstätten. Die alltägliche Diskreditierung der Humanität, die schon seit einer Generation ein prägendes Verhaltensmuster war, als die neue Form der Machtausübung Menschen brauchte, die mit Brutalität und Menschenverachtung kein Problem hatten, sondern diese geradezu für erforderlich hielten, um „Volk und Reich“ wieder zu Macht und Größe zu bringen, erzeugte einen Ungeist, dem sich auch das Rechtsdenken nicht verschloss.

Man kann die Haltung der Mehrheit der Deutschen umschreiben mit „bewusster Ignoranz“ oder auch mit dem volkstümlichen Ausdruck „sich in die Tasche lügen“.

Zur Entlastung beklagte man die „eigenen“ Opfer und machte sich nicht klar, dass vertriebene, enteignete und ermordete jüdische Nachbarn auch „eigene“ Opfer waren. So blieb es auch noch nach dem Ende der NS-Herrschaft in den Köpfen bei der Trennung zwischen „wir“ und „die anderen“, bei der Ausgrenzung also, die für so viele Wähler noch eineinhalb Jahrzehnte zuvor ein Motiv war, die Hitler-Partei zu wählen.

Und wenn die Menschen daran erinnerten, es sei ihnen unter Hitler doch gut gegangen, so wollte niemand den Zusammenhang mit der Auspressung und Enteignung der jüdischen Deutschen sehen. Wer eine gute Stelle bekommen hatte, empfand nichts dabei, wenn zuvor ein jüdischer Deutscher sie innegehabt hatte. Alles war nach der neuen Ordnung geschehen, die man besser gefunden hatte als die Demokratie.

Aber nicht nur die rassische Verfolgung wurde beschwiegen. Es gab zahllose Opfer der Denunzianten, der örtlichen Parteifunktionäre und SA-Männer, der Gestapo, der Sondergerichte, der „Fliegenden Standgerichte“, der Gesundheitsbehörden, usw. Diese waren – zumal nach den Deportationen – meist nicht i. S. der NS-Terminologie jüdisch oder fremdrassig. Aber auch für sie wurde bei weitem nicht in dem zu erwartenden Nachdruck Gerechtigkeit gefordert. Die Willkür, die Maßlosigkeit, der verbreitete Terror in der eigenen Verwandtschaft oder im eigenen Wohnort hätten zu einem Aufschrei führen müssen. Aber man hatte sich bisher nicht gemuckst und traute sich auch nach dem Ende des NS-Systems nicht, eine Anzeige zu machen oder Forderungen an den Gesetzgeber zu stellen. Man glaubte an die Legalität all der - meist in Formen des Rechts gekleideten - brutalen Maßnahmen gegen Schwarzhören, Schwarzschlachten, Witze-Erzählen und kritisches Denken. Und man schämte sich, solche Opfer in der Familie oder im Wohnort gehabt zu haben. So konnte keine offene Diskussion stattfinden und sich das Bewusstsein nicht ändern. Noch weniger waren die überlebenden Opfer selbst, die unter Bezeichnungen wie Asoziale, Fürsorgezöglinge, Erbkranke, Arbeitsscheue, Deserteure oder rassich Minderwertige in Lagern oder an der Front ausgebeutet und drangsaliert worden waren, in der Nachkriegsgesellschaft in der Lage, gesellschaftliche Rehabilitierung oder gar Entschädigung zu erlangen. Sie blieben Randexistenzen, wenn sie diese Zeit überlebt hatten, denn zu sehr glaubte die ganz große Mehrheit an die Richtigkeit und Notwendigkeit der Einstufung und Ausgrenzung dieser Menschen, die teils bedingt, teils endgültig aus der sog. Volksgemeinschaft ausgesondert worden waren, und man hielt die Behandlung, der sie ausgesetzt waren, für richtig, ohne auch nur eine schwache Ahnung von der Realität der als Erziehung (Fürsorgeerziehung, Arbeitserziehung), Betreuung oder Bewährungseinsatz deklarierten Maßnahmen zu haben. Gerichte bestätigten noch lange nach dem Ende des Unrechtssystems die von diesem getroffenen Kategorisierungen und weitgehend die Rechtmäßigkeit der daraus folgenden Maßnahmen.

Man kann die Haltung, gegen die Bauer publizistisch angehen musste, wie folgt zu umschreiben versuchen: Die NS-Hinterlassenschaft als Ganzes wurde von der Politik nur deklamatorisch behandelt, nicht aber als fundamentales Problem verstanden, das Gegenstand eines umfassenden Konzepts hätte werden müssen. Den infolgedessen von Fall zu Fall jeweils getrennt behandelten Einzelfragen gegenüber verhielt man sich passiv, und man konnte Forderungen (etwa von Opfern), wenn sie überhaupt mit genügendem politischen Druck gestellt wurden, je einzeln und zurückhaltend behandeln, ohne an eine in sich stimmige Gesamtlösung denken zu müssen. So konnten viele Opfergruppen lange Zeit ignoriert werden. Auch Tätergruppen, zumal in führenden Positionen der nat.-soz. Zentralbehörden gerieten kaum in den Blick, als hätten sie zwischen Hitler, Himmler und Heydrich an der Spitze und den Mördern an der Basis keine Funktion gehabt. Es wurden Scheindiskussionen geführt, z. B. nicht ernsthaft zu begründende juristische Bedenken ins Feld geführt. Die Praxis der Gerichte fand vielfältige Möglichkeiten, die Auswirkungen der alliierten Gesetzgebung zu steuern, ja in ihr Gegenteil zu verkehren. Über das NS-Unrecht urteilte man auch in der Politik pauschal und rechnete pauschal auf, um sich nicht mit Fakten und Einzelheiten auseinandersetzen zu müssen, die eine umfassende Aufarbeitung nahegelegt hätten. Die Sorge um Schonung und Integration von Nazis übertraf die Sorge um Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. Die strafrechtliche Aufarbeitung wurde behandelt, als genüge es, darauf zu warten, dass wegen all der Millionen Morde Anzeigen bei den Staatsanwaltschaften eingingen, die dann, personell und mit Sachmitteln wohlgerüstet und zeitgeschichtlich adäquat informiert, zu den Ermittlungen schritten.

Zwei Beispiele, wie im Namen des Rechts das Unrecht der Vergangenheit einer gerichtlichen Prüfung und Ahndung entzogen werden sollte, lieferten zwei Professoren.

Der eine Autor etwa ging zwar von der Maßlosigkeit des Unrechts aus, aber nicht, um seine Ursachen zu analysieren und der Allgemeinheit bewusst zu machen, auch nicht, um sich über eine umfassende Lösung klar zu werden. Vielmehr war für ihn die ungeheure Dimension des Verbrechens nur verbal der Ausgangspunkt. Von da trieb er die Erörterung der Frage, was zu tun sei, durch große, aber vage Worte ins Metaphysische, alle menschlichen Möglichkeiten Übersteigende, was nur in einem scheinheiligen Stoßseufzer der Resignation enden konnte: Dass wir dem Geschehenen in seiner Ungeheuerlichkeit nicht gerecht zu werden vermögen und wir es so hinnehmen müssen – fürwahr auch eine „umfassende“ Lösung! Also: nichts tun, gerade weil das Unrecht alle menschliche Vorstellung übertraf. Was sich eher wie eine Predigt anhört, entstammt einer Juristenfeder. Diese Auffassung blieb lange Jahre populär. Viele Schulden konnten so auf Jahrzehnte offen gehalten werden in der Hoffnung, sie würden irgendwann vergessen sein. Aber eine staunende Politik bekam nach und nach die offen gebliebenen Rechnungen präsentiert und war immer wieder gegenüber einer sich in Verdrängung übenden Öffentlichkeit in Erklärungsnot.

Ein lehrreiches Beispiel für Argumentationskunst im Dienst der Privilegierung verbrecherischer Richter lieferte ein Professor für Rechtsphilosophie. Damals lag der Rückgriff auf das Naturrecht nahe als auf einen Maßstab für Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit von Gesetzen, und das Naturrecht wurde nach dem Ende des Krieges eine Zeitlang diskutiert. Dass man damit allerdings auch NS-Verbrecher schützen kann, zeigen Überlegungen jenes Rechtslehrers: Ein Richter, der aufgrund eines naturrechtswidrigen NS-Strafgesetzes etwa die Todesstrafe ausspreche, begehe keineswegs dem äußeren Tatbestande nach Mord oder Totschlag. Denn auch die Anwendung eines solchen Gesetzes sei Gesetzesanwendung und keine Tötungshandlung wie auch etwa die Verhängung eines Todesurteils nach dem alten Strafgesetzbuch keine Tötungshandlung sei, die etwa nur wegen Einklangs dieser Vorschriften mit dem Naturrecht nicht rechtswidrig sei. Wende ein Richter ein NS-Gesetz an, könnte also seine Strafbarkeit nur aus dem Naturrecht folgen, was aber ausgeschlossen sei, denn nur ein geschriebenes Gesetz könne Strafbarkeit begründen. Die durch Urteil begangene Handlung sei mithin zur Zeit ihrer Begehung nicht unter Strafe gestellt gewesen.

Man fragt sich, welchen Sinn der Versuch einer Wiederbelebung des Naturrechts haben soll, wenn die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze durch Gerichte der Anwendung naturrechtsgemäßer Gesetze als gleichwertig angesehen wird. Typische Strafgesetze der NS-Zeit, etwa Volksschädlingsverordnung, Gesetz über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen, Kriegssonderstrafrechtsverordnung u. a. m., die die Machtausübung durch Justiz-Terror nach innen kennzeichneten, werden in dieser Sichtweise durch richterliche Tätigkeit ihres besonderen Charakters entkleidet. Hinzu kommt bei dieser Erörtung eine damals nicht ungewöhnliche Unkenntnis der Praxis der Straf- und Sondergerichte sowie des Volksgerichtshofs bei der extensiven Auslegung gerade der NS-Gesetze. Durch „unbegrenzte Auslegung“ wurden die zahllosen Fälle mit einem ins Auge springenden Exzess bei der Strafzumessung (und das ist ein hoher Anteil aller Urteile) zu Dokumenten des Wetteifers im Unrecht statt „schlichter Gesetzesanwendung“. In einem Vokabular hasserfüllter Ausgrenzung eines inneren Feindes offenbart sich ein Eifern, das Kennzeichen niedriger Beweggründe ist, also für Mord . Das Problem der Unrechtsurteile stellt sich somit als viel gravierender dar als in den theoretischen Erörterungen vorausgesetzt.

(Praktische Aufgaben von fundamentaler Bedeutung)

Die Aufgaben bei der Intensivierung der Verfolgung der NS-Verbrecher waren vielfältig. So war für eine umfassende Aufklärung der NS-Verbrechen eine Zentralisierung der Ermittlungen erforderlich. Diese sollten zudem nicht erst auf einen Tatverdacht hin aufgenommen werden, sondern mussten sich auf eine verdachtsunabhängige Überprüfung aller für die Mitwirkung bei den Vernichtungsmaßnahmen in Frage kommenden Einheiten und Dienststellen erstrecken. Ein programmatischer Artikel dieses Inhalts erschien in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ im September 1958, kurz vor Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg. Dieser Beitrag war von Bauer inspiriert. Zuvor hatte Bauer eine Ansiedlung dieser Zentralen Ermittlungsbehörde in Hessen erwogen.

In den Zusammenhang organisatorischer und rechtstechnischer Effektuierung der Strafverfolgung gehören noch drei wichtige Maßnahmen:

Erstens: Der Antrag beim Bundesgerichtshof auf Bestimmung eines hessischen Gerichts für einen Verfahrenskomplex. Dies war wichtig, um das Weitergeben von Verfahren wegen Unzuständigkeit auszuschließen.

Zweitens: Die Zusammenfassung von Verfahrenskomplexen, d. h. der Verfahren gegen mehrere Beschuldigten wegen meist zahlreicher Taten, die durch sachliche Zusammenhänge der Teile begründet ist.

Drittens:Die Einholung von Gutachten von Zeithistorikern zur Erhellung der größeren Zusammenhänge und richtigen Würdigung von Verbrechen. Diese formalen Möglichkeiten wurden von Bauer genutzt. Sie hatten beim Auschwitzprozess und anderen Verfahren Bedeutung. Aus Zeitgründen muss eine nähere Erörterung dieser Punkte unterbleiben, es kann aber ggfs im Rahmen der Diskussion einiges dazu gesagt werden.

Zu 1)
Fritz Bauer bemühte sich erfolgreich, große Verfahren dadurch in seine Zuständigkeit zu bekommen, dass er durch den Bundesgerichtshof ein Gericht in Hessen als für das Hauptverfahren zuständig erklären ließ. Hier zeigt sich, welche Bedeutung die innere Einstellung eines Strafverfolgers in führender Position für den Erfolg der Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die Justiz hatte. Zur Erläuterung: Für die Verfolgung eines Verbrechens muss zunächst eine der vielen Staatsanwaltschaften in der Bundesrepublik berufen, d. h. örtlich zuständig sein. Das richtet sich in erster Linie nach dem Tatort. Dieser lag bei den NS-Verbrechen jedoch meist außerhalb der (alten) Bundesrepublik. So war es bei den meisten Konzentrationslagern, den Einsatzgruppen und den Verbrechen in den besetzten Gebieten. In diesen Fällen richtete sich die Zuständigkeit nach dem Wohnsitz des Beschuldigten bzw. bei mehreren nach dem des Hauptbeschuldigten. Bei den großen, oft über Wochen und viele Monate sich erstreckenden Vernichtungsaktionen, zumal in Osteuropa, stand aber regelmäßig keineswegs fest, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt Einheitsführer war oder welche Personen bei den häufigen Kooperationen mehrerer Einheiten unter wessen Führung beteiligt waren, ob diese Personen noch lebten und wo sie wohnten. Regelmäßig kam ein größerer Personenkreis in Frage. Stellt eine Staatsanwaltschaft fest, dass sich der Schwerpunkt eines Komplexes oder eines Teils davon in einen anderen Bezirk verlagert, weil dort ein höherrangiger Mitbeschuldigter gefunden wird, so kann er den Komplex bzw Teilkomplex dorthin abgeben. Die Sachgemäßheit der Abgabe ist oft nicht eindeutig und war oft zwischen den Staatsanwaltschaften umstritten. Oft kam es zu einer ganzen Kette von Abgaben. Dadurch ging wertvolle Zeit verloren. Hat jedoch der Bundesgerichtshof die Zuständigkeit festgelegt, so ist eine Weitergabe nicht mehr möglich. Fritz Bauer hat als hessischer Generalstaatsanwalt mehrfach von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, z.B. beim Auschitz-Verfahren. In vielen Fällen ist die Beschleunigung des Verfahrens durch eine solche Maßnahme mit seiner Durchführung überhaupt gleichzusetzen, weil Verzögerungen Hindernisse bringen: Beschuldigte und Zeugen können sterben oder verhandlungs- bzw. vernehmungsunfähig werden. Die Erinnerungsfähigkeit der Zeugen läßt mit der Zeit nach.

Zu 2)
In engem Zusammenhang damit steht das Bemühen, Verfahrenskomplexe überhaupt zusammenzuhalten, d.h. auch dann, wenn sie nicht in Teilen in einen anderen Bezirk abgegeben werden, sondern nach Aufteilung am gleichen Gericht aber einzeln, und das heißt: bei verschiedenen Richtern verhandelt werden. Auch hier hatte Bauer zu kämpfen. Die Justiz scheute ein großes Verfahren, weil es einen größeren Aufwand zu erfordern scheint als mehrere kleinere. Die Einarbeitung durch mehrere Richter, die mehrfache Anreise von teilweise den gleichen Zeugen, die mehrfache Erstattung identischer oder nur geringfügig modifizierter Sachverständigengutachten fallen sicher stark ins Gewicht.

Zu 3)
Eine völlig neue Aufgabe war die Erhellung des Zusammenhangs zwischen den Verbrechen und den Zeitumständen, unter denen sie begangen worden waren. Bei der Würdigung einer Straftat spielen immer mehr oder weniger Umstände eine Rolle, die über die reine Beschreibung des Tatbestandes im Strafgesetz hinausgehen. In der Regel sind das soziale, berufliche oder persönliche Umstände, es können jedoch auch Umstände sein, die in den Zusammenhang der staatlichen Organisationen und Strukturen gehören. Wenn die Tat um etwa zwei Jahrzehnte zurückliegt, wie etwa beim Auschwitz-Prozess, wird die Erforschung dieser Umstände zur Aufgabe von Zeithistorikern. Dagegen ist eingewendet worden, es gehe jedenfalls um Tatsachen, und diese seien nur von Staatsanwaltschaft und Gericht anhand von Zeugenaussagen, Dokumenten und Augenscheinseinnahmen zu ermitteln; historische Darstellung aber sei immer dem wissenschaftlichen Meinungsstreit ausgesetzt, sei also eine Beurteilung, was zu einem Streit von Sachverständigen in der Gerichtsverhandlung führen müsse. Dies ist nicht richtig. Ein technischer Sachverständiger etwa legt dem Gericht dar, ein Ventil entspreche aus einem bestimmten Grund nicht der technischen Norm. Das ist zweifellos eine Tatsache. Bei den NS-Verbrechen wird der Zusammenhang, in den die Tat zu stellen ist, ganz wesentlich durch eine Rekonstruktion der Entwicklung bestimmt, die der Tat vorausging, und ebenso durch vergleichende Betrachtungen. Beides übersteigt die Kompetenz von Richtern und Staatsanwälten und die Möglichkeiten der Justiz. Deshalb sind zeitgeschichtliche Gutachten nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Interessant ist dabei, dass sie nicht nur etwa von Staatsanwälten, sondern auch von Verteidigern gefordert wurden, denn selbstverständlich kann eine zeitgeschichtliche Analyse auch dazu führen, eine Tat als weniger schwer zu beurteilen. Umgekehrt haben sich mitunter auch Richter gegen die Einholung von Gutachten ausgesprochen. Dabei mag die oben als falsch gekennzeichnete Auffassung maßgebend gewesen sein, alle notwendigen Umstände könnten nur vom Gericht selbst aufgeklärt werden. Es ist jedoch auch möglich, dass andere Motive eine Rolle spielten, etwa die Ausweitung des Prozess-Stoffs und damit den Aufwand für die Justiz gering zu halten oder gar, die Aufhellung der vielfältigen Verstrickungen vieler Stellen in Partei, Exekutive, Justiz und Militär in die Verbrechen zu verhindern.

Zeithistorische Forschung war also für die Prozesse nötig und brachte ihrerseits Aufklärung der Öffentlichkeit. Bekannt ist Bauers großes Interesse an der Gewinnung der historischen Erkenntnisse und an der Aufklärung der Bevölkerung. Aber dieses Interesse konvergierte mit den Notwendigkeiten der verfahren und ist nicht dme Vorwurf der Sachfremdheit ausgesetzt. Es ist ein großes Verdienst Bauers durch Aufträge an Sachverständige sowohl den Gerichten als auch der Öffentlichkeit fehlende Kenntnisse vermittelt zu haben.

(Archivarbeit und Rechtshilfe)

Die Beschaffung von Beweis-Dokumenten war eine vordringliche Aufgabe oder besser gesagt, sie wäre es gewesen. Als erstes hätte es nahegelegen, die Dokumente der Nürnberger Prozesse systematisch zu erschließen. Aber man verhielt sich so, als hätten diese Unterlagen nur eine einmalige Funktion in jenen Verfahren gehabt und darüber hinaus keine Bedeutung für die Erhellung der Organisation, der Befehlswege, der Zusammenarbeit von Dienststellen im NS-Staat. Und natürlich waren an den abgeurteilten Taten nicht nur die Abgeurteilten beteiligt. Die Auswertung dieser und anderer erreichbarer Dokumente, kam erst durch Bauer und die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Gang. Aber auch und besonders im Ausland existierte ein reicher Fundus an Aktenmaterial, das die deutschen Besatzungen hinterlassen hatten. Deren Auswertung erforderte einen großen Aufwand. Nötig war einerseits die systematische Auswertung, um die Erkenntnisse den Justizbehörden zur Verfügung zu stellen, zum andern waren in einzelnen Ermittlungsverfahren gezielte Anfragen – „Rechtshilfeersuchen“ – an ausländische Stellen zu richten, um Beweismaterial für bereits in den Ermittlungen befindliche Verbrechen zu erhalten.

Im westlichen Ausland wurde Archivarbeit in großem Umfang betrieben, und es gab dorthin auch einen regen Rechtshilfeverkehr. Gegen Beziehungen zu Archiven und Justizbehörden im Ostblock machte die Bundesregierung aber schwere Bedenken geltend. Sie versuchte zunächst, die Kontakte völlig zu unterbinden. Beziehungen in den Ostblock waren verpönt und wurden pönalisiert. Schließlich konnte und wollte die Bundesregierung sie nicht völlig unterbinden, verlangte aber von den Behörden der Länderjustiz in jedem Einzelfall konsultiert zu werden. Bundesjustizministerium und Auswärtiges Amt begründeten diese Restriktionen im Kern mit der sog. Hallstein-Doktrin, die die diplomatische Anerkennung von Staaten ausschloss, welche (wie die Staaten des Ostblocks) diplomatische Beziehungen zur DDR unterhielten. So versuchte man dem Anspruch der Bundesrepublik, für das ganze Deutschland zu sprechen, Nachdruck zu verleihen. Rechtshilfe- und Archivverkehr hätten, so fürchtete man oder gab es jedenfalls vor, über Vorstufen zu einer diplomatischen Anerkennung führen können. Ein anderer Staat kann aber sowieso nicht anders als durch den Akt einer Regierung anerkannt werden. Polen und Deutsche, die sich auf Arbeits-Ebene verständigten, waren sich ohnedies darin einig, dass die Kontakte nur eine praktische Hilfe ermöglichen und keine rechtlichen Verpflichtungen der Staaten untereinander zur Folge haben sollten.

Außerdem wurden die Restriktionen aus Bonn damit begründet, dass man gegenüber dokumentarischem Beweismaterial aus dem Ostblock besonders misstrauisch sein müsse. Es könne manipuliert sein und aus politischen Gründen vorgelegt werden. Und Zeugen seien auf ihre politische Zuverlässigkeit geprüft, bevor ihnen die Ausreise zu einer Hauptverhandlung in der Bundesrepublik erlaubt werde. Man fragt sich, ob man in den Bundesministerien tatsächlich die Vorstellung hatte, Polen sei auf Manipulationen angewiesen. Eigentlich musste doch jedem einigermaßen Informierten klar sein, dass die fast fünf Jahre Besatzung in Polen aus einer durchgängig kriminellen Unterdrückung bestanden hatten, von der die Akten der deutschen Behörden in Polen fast Blatt für Blatt zeugten. Es mag allerdings sein, dass man doch noch weitgehend in der Vorstellung verhaftet war, die Praxis der deutschen Besatzung als im großen und ganzen legal darstellen zu können. Aber auch der Gedanke, die Auseinandersetzung mit den Verbrechen durch die politische Abschottung auf Dauer zu vermeiden, mag ein Motiv für die Restriktionen gewesen sein. Jene Unterlagen liegen in Polen in einem Umfang vor, dass sie auch heute noch nicht alle gesichtet worden sind. Zwar hat Polen auch Material vorgelegt, welches politische Prominenz schwer belastete. Aber wenn es solches Material gab, so war es Vogel-Strauß-Politik, es abzuwehren, was über kurz oder lang doch nicht gelingen konnte und nur zu einer Verlängerung und Verschlimmerung der jeweiligen Affäre führen musste. Rechtshilfekontakte nach Polen gab es gleichwohl, und zwar seitens der Zentralen Stelle in Ludwigsburg und von Hessen aus. Vor allem Fritz Bauer knüpfte Kontakte in den Ostblock, insbesondere nach Polen. Sein Kontaktmann war der Pole Jan Sehn, Rechtsprofessor und zeitweise Mitglied der Polnischen Hauptkommission zur Aufklärung der Hitlerverbrechen, der vielemale zu Bauer nach Frankfurt kam. Bauer erreichte auch, dass polnische Zeugen zu den Hauptverhandlungen nach Hessen kommen konnten, was in den ersten Jahren keineswegs selbstverständlich war. Dies war gewissermaßen ein inoffizieller „kleiner Grenzverkehr“, der über viele Jahre bestand, bevor im Jahre 1966 der Rechtshilfeverkehr und die Archivauswertung in Polen nicht mehr von offizieller Seite der Bundesrepublik restriktiv behandelt wurden.

Als der junge Schriftsteller Thomas Harlan seit 1959 als Privatmann Gelegenheit hatte, in polnischen Archiven die Unterlagen zu suchen, auf denen die Deutschen ihre Verbrechen dokumentiert hatten, war seine Anlaufstelle der Generalstaatsanwalt in Frankfurt. Allein Bauer schien ihm zu gewährleisten, dass die Dokumente, die ja nicht nur zu Frankfurter Verfahren gehörten, an die richtige Stelle gelangten. Bauer führte Harlan bei der Zentralen Stelle in Ludwigsburg ein, die dann über längere Zeit von Harlan aus Warschau mit zahlreichen Dokumenten „beliefert“ wurde.

(Widerstandsrecht)

Der späte und schwache Widerstand gegen das NS-Regime hatte für Fritz Bauer zwei Aspekte. Widerstandsrecht des Bürgers gegen staatliches Unrecht rückte in den Mittelpunkt von Bauers Rechtsdenken. Zugleich versuchte er in der Rechtsprechung eine Anerkennung des Widerstandes als Bürgerrecht zu erreichen.

Die öffentliche Diskussion um das Widerstandsrecht blieb zu seiner Zeit unentschieden. Die politische Führung verhielt sich zwiespältig. Bundesregierung und Bundestag konnten sich zwar auf eine Resolution zugunsten einer Anerkennung des Widerstandes als legitim verständigen, in der Praxis jedoch war dies, zumal in der Rechtsprechung, keineswegs verbindlich.

Die Juristen wollten ja „nur dem Recht gedient“ haben. Wie sollten sie jetzt zur Einsicht kommen, sie hätten durch die noch vor kurzer Zeit angewendeten Vorschriften Unrecht begangen und einen Beitrag geleistet zur Aufrechterhaltung eines verbrecherischen Systems, und woher hätte ihnen der Mut zuwachsen sollen, dies in Urteilen auszusprechen, wenn sie zuvor nicht die Zivilcourage zur Verweigerung aufbrachten?

In der Rechtsprechung, die durchaus nicht einheitlich war, hatte Bauer einen eindrucksvollen Erfolg. In seiner Braunschweiger Zeit klagte er Otto Ernst Remer an, den führenden Funktionär der Sozialistischen Reichspartei und vormaligen Kommandeur des Wachbataillons „Großdeutschland“, und zwar wegen Verunglimpfung der Verschwörer des 20. Juli 1944. Remer, der in Berlin an der Niederschlagung des Aufstandes beteiligt gewesen war, hatte 1950/51 in Niedersachsen auf vielen Veranstaltungen seiner Partei in der Absicht einer Wiederbelebung des Nationalsozialismus die Widerstandskämpfer als Landesverräter bezeichnet. Zur Hauptverhandlung vor dem Landgericht Braunschweig hatte Bauer, der die Anklage persönlich vertrat, zu Fragen der Legitimität von Widerstand gegen staatliche Gewalt und zur Verbindlichkeit verbrecherischer Befehle zwei Moraltheologen beider Kirchen und einen Militärjuristen als Sachverständige sistiert. Das Gericht folgte den Gutachten. Remer wurde am im März 1952 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und hatte keinen Erfolg mit seiner Revision.

Hier zeigt sich Bauers Grundhaltung ganz deutlich: Die damalige Gesellschaft verstand sich als christlich. Was immer man dazu kritisch mag anmerken wollen und was immer Bauers Haltung zum Christentum gewesen sein mag, - was steht dem Ansinnen entgegen, in einer Strafsache wie dieser den Einklang zwischen der Rechtsprechung und den sittlichen Grundlagen von Gesellschaft und Verfassung bezüglich des demokratischen Neubeginns nach der Diktatur einzufordern?

Zugleich war durch dieses Urteil etwas klargestellt: Wenn die Hitler-Tyrannei überpositives Recht gebrochen hatte, dann war dieses überpositive Recht eben auch die letzte Grundlage aller Akte der Rechtssetzung und der Rechtsprechung, welche nun eine menschliche Rechtsordnung wiederherstellen wollten.

(Überflüssige Resozialisierung von NS-Tätern?)

Bauer ist oft vorgehalten worden, bei der Verfolgung von NS-Verbrechen haber seine eigene rechtspolitische Maxime von Resozialisierung des Verbrechers und Sicherung vor dem Verbrecher als einzigem Strafzweck zugunsten des von ihm abgelehnten Prinzips und von Schuld und Sühne verlassen, er sei also inkonsequent und messe letzten Endes allgemeine Kriminalität und NS-Verbrechen mit zweierlei Maß. Tatsächlich verhielten sich die höheren Polizei- und NS-Funktionäre unauffällig, gingen bürgerlichen Berufen nach und manche engagierten sich sogar im Gemeinwesen auf die eine oder andere Art zumal in politischen Parteien. Sie sollten nach Meinung von Bauers Kritikern mithin einer Resozialisierung nicht bedürftig sein, und es sollte von ihnen keine Gefahr ausgehen für die neue Ordnung. - Auch die berüchtigten Mörder in den Lagern, die Sadisten und Exekutoren des Rassismus lebten inzwischen unauffällig und suchten kein Betätigungsfeld für die vormals geübte Unmenschlichkeit.

Es mutet schon sehr makaber an, wenn gerade die schlimmsten Verbrechen und gefährlichsten Verbrecher gegenüber den überkommenen Erscheinungen von Kriminalität privilegiert werden sollen. Denen, die diese Argumentation vertraten, muss man zunächst vorhalten, dass sie aus einem in ihren Augen bei Bauer bestehenden Widerspruch die genannte Privilegierung herleiten, die nach ihrem eigenen Standpunkt, nämlich dem des Schuldstrafrechts, gar nicht begründet werden könnte. Das bedeutet: man thematisierte die Streitfrage erstens, um Bauer unglaubwürdig zu machen, und zweitens, um Argumente für eine Entlastung schwerstbelasteter NS-Funktionäre zu haben, die man sonst gar nicht hätte. Man wird also für einen „guten Zweck“ eine taktische Überlegung lang Bauer-Anhänger.

Die Frage ist allerdings, ob die nach dem Ende des NS-Sytems zu beobachtende Unauffälligkeit der NS-Verbrecher den Schluss auf eine Abkehr von jener Grunddisposition zulässt, aus der die aktive Unterstützung der verbrecherischen Politik und das eifrige Mittun bei der Durchführung entsprungen waren. Schuldbekenntnisse, seien sie allgemeiner Art oder in einem Strafprozess gesprochen, hat es von diesen Männern so gut wie überhaupt nicht gegeben. Aber es ist auch festzustellen, dass es tatsächlich kaum jemand gab, der das, was geschehen war, nachträglich noch öffentlich und ausdrücklich guthieß. Dies wäre, auch aus der Sicht eines unverbesserlichen Nazis, der von einer Neuauflage des sog. Dritten Reiches träumte, außerordentlich unklug gewesen. Selbst Exponenten des Neo-Nazismus wie Remer, 2. Vorsitzende der SRP, und Verleumder der Widerstandskämpfer des 20. Juli, fanden Wege, ihren Anhängern nationalsozialistische Vorstellungen zu vermitteln, ohne Hitler zu glorifizieren oder den rassistischen Massenmord und den Völkermord ausdrücklich zu rechtfertigen. Man muss sich die Einlassungen von NS-Verbrechern in den Prozessen ansehen, auch die in aller Regel entlastenden Aussagen von Kollegen und Kameraden der Beschuldigten: Sie versuchten, sich mit dem schon zur NS-Zeit üblichen propagandistischen Umlügen ihres Tuns zu entlasten: Vernichtungsaktionen wurden als Maßnahmen polizeilicher Gefahrenabwehr oder als kriegsrechtliche Repressalien deklariert, diktiert von militärischer Notwendigkeit. Es hätten zudem besondere Umstände vorgelegen, die strengstes Vorgehen erforderlich gemacht hätten; dabei sei es nicht zu vermeiden gewesen, dass mitunter auch Unschuldige zu Tode gekommen seien. Von der systematischen Ermordung der Juden habe man nichts gewusst. Manche der Maßnahmen habe man selbst auch nicht für gut und notwendig gehalten; mitunter habe man sie abmildern können, aber sich letztlich und in der Regel den Anordnungen höherer Stellen nicht entziehen können. Alles was geschehen sei, müsse man unter den extremen Bedingungen des Kampfs um die Existenz des Volkes schlechthin bewerten, Bedingungen also, die für „normale Zeiten“ nicht gälten. Bei diesen Entlastungen wurden die alten Sprachregelungen des Nationalsozialismus verwendet, aber deren Verlogenheit immer noch nicht durchschaut.

Wenn man für Resozialisierung von NS-Tätern genügen lassen wollte, dass unter neuen Bedingungen die Verbrechen von ehedem nicht fortgesetzt werden und man so den Verbrechern erspart sich zu verantworten, weil sie sich nunmehr zu verhalten scheinen wie alle andern, so übersieht man, dass bereits der Weg in die Unmenschlichkeit durchaus nicht aus einer demokratisch-rechtsstaatlichen Normalität heraus genommen worden war. Die Republik mit der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands war von der Mehrheit nicht als die Chance für Deutschland betrachtet worden, sondern als Irrweg, Schande... Darum waren in der Rechtsprechung der Weimarer Zeit politische Delikte der Nazis immer zugleich patriotische Taten, die privilegiert wurden, politische Delikte der Linken hingegen waren gemeine Verbrechen und zugleich Taten, die gegen eine Rückkehr zur wahren deutschen Ordnung gerichtet waren. Auch die Rechtslehre vertrat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Auffassung, die Weimarer Verfassung und diese Republik hätten nur den Charakter des Vorläufigen und eines Übergangs. Intellektuelle, die dies kritisierten, hatten Leben und Gesundheit riskiert. Weite Kreise in der Bundesrepublik, die an vormalige Verhältnisse als an eine verlorene Normalität anknüpfen wollten, merkten nicht, dass jene Verhältnisse nur in ihren Köpfen „normal“ gewesen waren, tatsächlich aber schon die Bedingungen zum Umschlag in eine unumkehrbare Entwicklung zum nationalsozialistischen Staat in sich trugen. Man war also vom unkritischen Denken von ehedem auch nach dem Scheitern des Weltbildes nicht losgekommen.

Nur wer sich darüber nicht klar ist, kann das Fehlen von nationalsozialistischen Äußerungen und Betätigungen schon als Eingliederung in eine durch Kultur und Recht bestimmte menschliche, zivile Gesellschaft ansehen.

Sicher ist es äußerst schwierig, die innere Haltung eines Menschen und eine Änderung der Haltung explizit festzustellen und zu bewerten. Andererseits ist es ganz abwegig, den Vollzug einer Änderung schon aus äußerer Unauffälligkeit zu begründen.

Wer eine Haltung einnimmt, wie sie die Verbrecher zu ihrer Exkulpation vortrugen, erhebt Verbrechen auf die Ebene von Pflichterfüllung und aufopferungsvollem Dienst am Gemeinwesen. Das ist alles andere als Anpassung an die gesellschaftliche Normalität, sondern Verharren in einer destruktiven inhumanen Grundeinstellung. Diese groteske Rhetorik nicht durchschaut und ihr nichts entgegengesetzt zu haben, war der Anfang einer langen falschen „Integrations“-Politik. Die Juristen bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten hatten allerdings genauer hinzusehen. Sicher haben sie die beschriebenen Entlastungs-Argumentationen in der Regel zurückgewiesen, mitunter haben sie sich aber auch schwer damit getan. Manches milde Urteil, manche Beurteilung einer Tötung als Totschlag statt als Mord mag unausgesprochen vor dem Hintergrund solcher Erwägungen gesprochen worden sein.

(Privilegierung von Justiz-Tätern)

Der Aufbau des Rechtsstaats hing auf vielfältige Weise damit zusammen, wie man mit der Tätigkeit der NS-Justiz und mit den in ihr tätig gewesenen Juristen umging. Fritz Bauer dürfte in der Nachkriegsjustiz derjenige gewesen sein, der hier am wenigsten zu Kompromissen bereit war. Werfen wir aber zunächst einen Blick auf die NS-Justiz.

Der NS-Staat verfügte über eine von der Weimarer Republik übernommene Apparatur mit Namen Justiz, die er aber in einer Weise zum Instrument der Politik machte, dass man nur noch von Exekutive in quasi-justiziellen Formen sprechen kann. Hitler als Inhaber der vollziehenden Gewalt nahm für sich auch in Anspruch, nicht nur die Gesetzgebung zu bestimmen, sondern auch die Letztentscheidung im Bereich der Justiz innezuhaben, also über den Gerichten zu stehen. Die Arbeit der Justiz im Nationalsozialismus war durch Anpassung an die ausdrücklichen und informellen Vorgaben der politischen Führung geprägt. Im Sinn der politischen Linie haben die Gerichte sehr häufig auch vorauseilenden Gehorsam geübt, d. h. sie haben die Erreichung des politischen Zwecks bei der Entscheidungsfindung „weitergedacht“ und sind über die Grenzen der vorhandenen an sich schon rechtsstaatswidrigen Vorschriften in diesem Sinn weit hinaus gegangen. Sie haben ihre Aufgabe darin gesehen, das politisch Opportune in die gerichtliche Sprache zu kleiden: Ein nicht zu unterschätzender subtiler Hilfsdienst der Justiz für die Politik. Immer wieder haben Gerichte allerdings auch in erschreckender Weise den nur ideologisch zu erklärenden Eifer ihres angepassten Mit-Tuns in die Formulierungen einfließen lassen. Sie haben damit selbst ihren Rechtsbeugungsvorsatz dokumentiert. Die überkommenen Regeln nachvollziebarer Gesetzesanwendung hat man somit weit hinter sich gelassen. Dabei wäre die bedenkenlose wörtliche Befolgung der typisch nat.-soz. Gesetze für sich allein schon Un-Rechtsprechung genug gewesen.

Eine Maxime wurde zum Passepartout der Gesetzesanwendung: das „gesunde Volksempfinden“. Mit diesem Wort hielt der Ungeist der Stammtische, der Offizierskasinos und der studentischen Verbindungen Einzug in eine in Deutschland hochentwickelte und im Ausland mehrfach übernommene Rechtskultur. Allerdings gab es im Rechtswesen seit langem eine Begrifflichkeit, die dem Volk fremd war und sicher auch rabulistisch missbraucht wurde. Diesem Missstand dadurch abhelfen zu wollen, dass man die vorgeblich unverfälschten Regungen der Menschen zum obersten Grundsatz des Normensystems machte, war im besten Fall naiv. Von den Machthabern war es aber eine wohlkalkulierte Unterwerfung des Rechts unter ihre Ideologie. Denn sie bestimmten generell wie im einzelnen nach Bedarf, was gesundes Volksempfinden sei und ihre Diener in der Justiz, erfüllt vom Eifer, sich in der neuen Ordnung zu bewähren, griffen den Grundsatz bereitwilligst auf. Sie verrieten dadurch, worauf sie formell und durch ihr Berufsethos verpflichtet waren.

Die Arbeit der Justiz war in der NS-Zeit trotzdem immer wieder Gegenstand der Kritik höchster politischer Instanzen. Man darf sich unter den kritisierten Urteilen allerdings keineswegs Akte der Verteidigung des Rechts gegen Staatswillkür vorstellen (diese waren extrem selten), eher handelte es sich um politische Instinktlosigkeit und um berufsbedingte Befangenheit in den immer noch fortexistierenden juristischen Formalien, die an höchster Stelle unangenehm auffielen.

Es gab lange Zeit und vielleicht immer noch die Vorstellung eines Bereichs der Justiz im Nationalsozialismus, der von der Politik unberührt geblieben sei, und als Insel des Rechts, als „letzte Bastion“, fortexistiert habe. Natürlich gab es Bereiche, für die die Politik sich nicht (oder noch nicht) interessierte. Aber diese waren sehr klein und sie standen ständig in der Gefahr, aus dem Windschatten politischen Desinteresses ins Visier der politisch Reglementierung zu rücken. Potentiell war alles der Politik unterworfen und mit den Jahren, zumal im Krieg, wurde der davon verschonte Bereich immer kleiner. Als eine Insel, auf der der Gedanke von Recht und Gerechtigkeit die Zeit der Diktatur überstanden habe, wie es manche Juristen darstellen möchten, können diese Gebiete der Justiz nicht angesehen werden. In einem System, welches das Recht und die Juristen offen verachtete und instrumentalisierte, hätte Überdauern des Prinzips Gerechtigkeit nur durch Widerstand der Justiz realisiert werden können, und zwar gerade in den politisch wichtigen Bereichen, also fast überall, und nicht in den wenigen Zweigen, die noch nicht ins Blickfeld der Führung getreten waren. Vom Widerstand einzelner Juristen in der Justiz gibt es wenige leuchtende Beispiele, derer heute wieder gedacht wird. Auf sie haben sich die Vertreter der These von der „letzten Bastion“ aber keineswegs berufen. Dass diese Legende überhaupt hat aufkommen können, ist – neben einem verständlichen Wunsch nach Selbstentlastung und Anpassung an den neuen Staat – offenbar dem Missverständnis der eigenen Aufgabe und des eigenen Tuns im System des Unrechts zuzuschreiben. Das also war das Bewusstsein der Juristen, die nach dem Krieg Jurist bleiben wollten und vermeintlich eine rechtsstaatliche Justiz aufbauen konnten.

Es ist dieser Hintergrund vor dem eine der schwerwiegendsten Beteiligungen der Justiz an den Verbrechen des Nationalsozialismus betrachtet werden muss. Im Herbst 1939 beschloss Hitler die Tötung eines Großteils der Patienten der Heil- und Pflegeanstalten. Seine auf den 1. September 1939 datierte interne Weisung war die einzige „Grundlage“ des unter dem Decknamen „Aktion T 4“ bekannten, damals aber geheim gehaltenen umfassenden Tötungsprogramms, dem im Reich über 100 000 Menschen zum Opfer fielen. Ein Gesetz, das ja im Reichsgesetzblatt hätte veröffentlicht werden müssen, wurde vermieden. Ob die Tötungen bei Erlass eines entsprechenden Gesetzes als rechtmäßig zu behandeln gewesen wären, muss bezweifelt werden, kann aber dahin stehen. Wegen Fehlens der gesetzlichen Grundlage wären alle Tötungen von Patienten durch die Justiz zwingend als Mord bzw. Totschlag zu verfolgen gewesen. Bei allen vormundschaftsgerichtlich nicht genehmigten Verlegungen von Patienten (z.B. in eine der Anstalten, die für die Tötungen und Leichenverbrennungen eingerichtet waren) hätte eine Beteiligung an der rechtswidrigen Tötung oder eine Freiheitsberaubung vorgelegen. Nach dem Anlaufen des Mord-Programms im Januar 1940 erwies es sich als nötig, die Justiz dazu zu veranlassen, in diesen Fällen entgegen ihrem gesetzlichen Auftrag untätig zu bleiben. Diese Weisung konnte nun ebensowenig schriftlich gegeben werden, wie die Tötungen durch geschriebenes Gesetz für zulässig erklärt werden konnten. Das Reichsjustizministerium lud deshalb alle 34 Generalstaatsanwälte und 34 Oberlandesgerichtspräsidenten nach Berlin zu einer Konferenz ein, auf der ihnen der die Geschäfte des Ministers führende Staatssekretär Schlegelberger, einer der Leiter der „Aktion T 4“, Brack, und der führende Mediziner, Professor Heyde, das Anliegen der Führung bekannt gaben und erläuterten. Alle Geladenen nahmen dies widerspruchslos zur Kenntnis und sorgten in ihrem Amtsbereich wie gewünscht durch geeignete mündliche Weisungen dafür, dass die „Aktion T 4“ durch die Justiz nicht behindert und die Tötungen nicht durch Verfahren, die hätten eingeleitet werden müssen, bekannt wurden. Die hohen Juristen haben dadurch nicht nur an den nach dieser Konferenz geschehenen Tötungen mitgewirkt, sondern auch die ihnen dort offiziell bekannt gewordenen seit 15 Monaten durchgeführten und keineswegs verjährten Straftaten gesetzwidrig unverfolgt gelassen. Von den 68 Teilnehmern der Konferenz haben viele den Krieg überlebt. Niemand jedoch in der Justiz der ab 1946 gegründeten Länder fühlte sich verpflichtet, dieses Verhalten unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen.

Fritz Bauer, der sich wohl seit etwa 1959/60 mit diesem Komplex beschäftigte, erschien es wichtig, ein umfassendes Verfahren gegen die noch etwa 30 Überlebenden der Konferenz von Berlin zu verwirklichen. Dies hätte gegenüber Verfahren gegen einzelne Täter große Vorteile gehabt, war aber nur schwer durchzusetzen. Die Behandlung der Sache durch die Justiz einzelner Länder, die nicht im einzelnen dargestellt werden kann, kann nur als abenteuerlich und skandalös bezeichnet werden und führte zu erheblichen Verzögerungen, bis Bauer schließlich doch die zentrale Zuständigkeit erlangte und im April 1965 den damals noch vorgeschriebenen Voruntersuchungsantrag gegen die mittlerweile nur noch 20 lebenden Beschuldigten, darunter Schlegelberger, stellen konnte.

Juristen müssen ihr gesamtes Tun und Lassen begründen und auf Vorschriften schlüssig zurückführen. Wenn es aber darum geht, Abgründe in der eigenen Institution zu verdecken und das amtliche Tun namhafter Kollegen vor der Würdigung als Verbrechen zu bewahren, ist man in mannigfaltiger Weise „kreativ“ und keine noch so abwegige Begründung wird verschmäht.

Fritz Bauer konnte das Verfahren nicht weiterbetreiben, weil er in der Nacht zum 1.7.68 starb. Einige Zeit danach wurde es von seinem Nachfolger sang- und klanglos beendet, ohne dass es bis zur Anklage gediehen wäre.

Die ungeklärten Umstände von Bauers Tod und seine von ihm als zweites Exil empfundene Situation allseitigen Bedrängtseins sollen nicht in einen spekulativen Zusammenhang gebracht werden. Aber sie haben eine sich aufdrängende Symbolik.

(Rechtskultur)

Der Konsens der großen Mehrheit sowohl unter Juristen und Politikern als auch in der Bevölkerung darüber, wie man das Streben nach Bewährung der selbstgegebenen Normen-Ordnung in der Realität zu dämpfen habe, ermöglichte letztlich Bauers Bemühungen nur begrenzte Erfolge. Aber auch da, wo er scheiterte, hat er für die Nachwelt Zeichen gesetzt. Dem Selbstverrat der Rechtskultur die eigene Position unbeirrt entgegengesetzt zu haben, ist der eigentliche Sinn von Bauers Wirken. Wenn heute auch die Justiz, neben Polizei, Psychiatrie und Wissenschaften, ihre Vergangenheit aufarbeitet, so knüpft sie bei Bauer an. Es konnte nicht Aufgabe dieser Überlegungen sein, den Begriff der Rechtskultur überhaupt zu entwickeln und zu bestimmen. Einige Aspekte des Kampfes, den Fritz Bauer gegen den Zeit-Ungeist geführt hat, zeigen aber überdeutlich, was der Rechtskultur der Bundesrepublik gefehlt hat und der Öffentlichkeit nur mit großer Verspätung nach und nach als Mangel bewusst wird. Daneben gibt es aber immer noch Reaktionen in der Bevölkerung bei den verschiedenen Etappen des Offenbarwerdens der frühen Versäumnisse, die zeigen, dass die Grundeinstellungen, die so lange das Bild bestimmten, in einer Unterströmung weiterexistieren. Denn im Alltag der meist nicht öffentlich werdenen Meinungen ist die Frage, wann denn nun das Ende der Konfrontation mit den eigenen Irrwegen erreicht sei, unüberhörbar für den aufmerksamen Zeitgenossen.

Es verwundert deshalb nicht und lässt Schlimmes befürchten, wenn sogar eine Tageszeitung, die Meinungsführungschaft beansprucht, Bauer aus Anlass seines 100. Geburtstags verspottet und sein Wirken als idealistisch-moralisti­schen Irrweg belächelt. Dass dies Methode hat, zeigt ein Artikel zum 40. Jahrestag des Beginns des Auschwitz-Prozesses im gleichen Blatt. Bauers Name wird nicht erwähnt, als habe eine namenlose Apparatur das Verfahren in Gang gebracht und betrieben. Wir müssen uns deshalb am Ende unserer Betrachtungen fragen, ob nun – trotz allen Wandels in den letzten Jahrzehnten – Fritz Bauer ein zweites Mal zum Schweigen gebracht werden soll. In den Sprüchen Salomons steht geschrieben: Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Der Umkehrschluss liegt auf der Hand.



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