Vorträge von Herbert Schneider |
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Herbert Schneider, Richter a.D.
Zur Einstimmung auf das Thema will ich von einem Erlebnis berichten, das einige Zeit zurückliegt. Bei der Zentralen Stelle rief mich ein Kollege an. Er hatte vor vielen Jahren als Staatsanwalt einen berühmten Fall bearbeitet und das Verfahren eingestellt. Es ging um eines jener Verbrechen, für die die Imagination nicht auf Bilder angewiesen ist, vielmehr die nüchterne Schilderung genügt, um Entsetzen und Sprachlosigkeit hervorzurufen. Es soll nun am Tatort in einer Gedenkstätte dokumentiert werden. Das wirft ohne weiteres die Frage auf, was die Justiz getan hat, um die Schuldigen zu bestrafen. Darum soll auch dies dokumentiert werden. Dem Kollegen wurde zugestanden, sich zu seiner Entscheidung zu äußern. Dazu benötigte er von uns alte Unterlagen.
Einige Zeit später lernte ich zufällig einen Kollegen von derselben Behörde kennen. Es stellte sich heraus, daß er vor vielen Jahren ebenfalls NS-Verbrechen bearbeitet hatte. Meine Vermutung, er müsse jenen Fall des ersten Kollegen kennen, bestätigte sich. Er sagte, zum Glück war das nicht mein Verfahren. Nach einer Pause fügte er sehr nachdenklich hinzu, er habe damals auch vieles mit sehr unguten Gefühlen geschrieben und wolle das heute lieber gar nicht mehr lesen. Man darf sicher sein, daß alles vom Vorgesetzten – mit welchen Gefühlen ? – abgezeichnet wurde.
Gewiss sind nicht alle Kollegen so sensibel wie die beiden genannten; aber auch ihre Sensibilität löst erst mit großer Verzögerung Einsicht aus. Nach allem, was ich in den Ludwigsburger Jahren gelesen habe, kann ich nur sagen: Es gibt viele Einstellungen und Entscheidungen, die ihren Verfassern nachgehen könnten und sollten.
Mit der Äußerung des Kollegen über seine „unguten Gefühle“ ist ein Phänomen angedeutet, das jeder Jurist kennt. Man ist geistig in einen Rahmen gespannt, der durch Gesetz, herrschende Rechtsprechung und Methodik gekennzeichnet ist und einem durch die Übereinstimmung der Entscheidung mit dem, was als „Recht“ gilt, eine gute Nachtruhe gewährleisten, wie er andererseits dem Publikum und dem Täter die Sicherheit geben soll, diesem geschehe recht. Insofern sind wir alle Positivisten.
Neben einer solchen halbbewußten, unreflektierten Anpassung, deren Früchte meist in den Akten begraben und nicht veröffentlicht sind, gibt es als Ursache für Fehlentwicklungen auch ganz bewußte Weichenstellungen, die sich in der Literatur und in der Rechtsprechung verfolgen lassen. Sie sind für zahlreiche völlig unbefriedigende Verfahrensergebnisse verantwortlich. Aus der Menge der Erscheinungen möchte ich einige herausgreifen und gleichsam unter einem Vergrößerungsglas genauer betrachten.
Die Rechtsentwicklung nach dem Krieg nimmt bei der grundlegenden Frage, ob in den zwölf Jahren der Diktatur alles falsch, verbrecherisch und vergeblich war, ihren Anfang.
Im Mittelpunkt stand der Kampf um den Fortbestand des Deutschen Reiches als Staat. Die Frage hatte einen hohen Symbolwert und das Konzept der Kontinuität einen dogmatischen Wert für die Begründung von Auffassungen, die an das Vergangene anknüpften.
Die Alliierten waren bereits vor dem Kriegsende entschlossen gewesen, den deutschen Staat von Grund auf zu verändern und die Staatsgewalt zu übernehmen. Hierzu hatte Hans Kelsen in den U.S.A. die theoretische Grundlage entwickelt. Er vertrat die Theorie von der Liquidierung des deutschen Staates, und zwar vor und nach dem entscheidenden Akt: Am 5. Juni 1945 übernahmen die Alliierten durch eine gemeinsame Deklaration die oberste Regierungsgewalt in Deutschland – vier Wochen nach Inkrafttreten der bedingungslosen Kapitulation und zwei Wochen nach der Verhaftung der Regierung Dönitz.
Für das Rechtswesen ergaben sich gravierende Änderungen. Die Justiz nahm erst im Herbst 1945 nach mehrmonatiger Pause und mit gesiebtem Personal ihre Tätigkeit mit Einschränkungen und unter Kontrolle der Besatzungsmächte wieder auf. Typisch nationalsozialistische Gesetze wurden ausdrücklich und ex tunc aufgehoben, alle Gesetze der NS-Zeit hatten nicht mehr die Vermutung der Legalität für sich und waren entgegen der evtl. vorhandenen nationalsozialistischen Intention des Gesetzgebers auszulegen. Die „Allgemeinen Anweisungen an Richter“ wurden erlassen. Die Länder wurden zum Erlass von Gesetzen veranlaßt, durch welche Widerstandshandlungen gegen Nationalismus und Militarismus für nicht strafbar erklärt wurden. Am 30. Oktober 1945 erging das Kontrollratsgesetz Nr. 4 (inkraftgetreten am 30. November 1945) über die „Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens“, das die Zuständigkeit bei NS- und Kriegsverbrechen abgrenzte. Für Kriegsverbrechen erging am 20. Dezember 1945 das Kontrollratsgesetz Nr. 10; es galt sowohl für das Internationale Militärtribunal von Nürnberg und die weiteren Prozesse als auch bis 1951 für deutsche Gerichte. Es wurde auch auf die nicht-völkerstrafrechtlichen Staatsverbrechen, also allgemein auf NS-Verbrechen angewendet. Insoweit arbeiteten die deutschen Gerichte teils mit allgemeiner, teils mit von Fall zu Fall erteilter Ermächtigung der Besatzungsmacht. - Seit der Aufklärung war damit der Begriff Menschlichkeit erstmals wieder in das Begriffssystem des Rechts aufgenommen worden.
Die These von der Kontinuität des deutschen Staates wurde aus sehr unterschiedlichen Motiven vertreten. Der hessische Justizminister Zinn und der damalige hessische Ministerialbeamte Adolf
Arndt vertraten die Auffassung vom Fortbestand des deutschen Staates, um einem Auseinanderdriften seiner Teile entgegenzuwirken. Bei ihnen ist nicht anzunehmen, sie hätten NS-Verbrecher schonen oder NS-Regime legitimieren wollen. Allerdings gehörte Kurt Schumacher, der sich dieser von seinen Parteifreunden Zinn und Arndt vertretenen Doktrin anschloss, später zu denjenigen, die mit „Integrationspolitik“ auch Milde gegenüber NS-Verbrechern übten. Während die genannten Juristen ihre Auffassung dogmatisch begründeten, ließen es diejenigen, die möglichst viel vom überkommenen Recht retten wollten, bei der Erörterung der Einzelfragen des Strafrechts an einer gründlichen Auseinandersetzung mit diesem Problem fehlen. Das war auch leicht möglich, weil der Trend eindeutig war und bald übermächtig wurde. Nachdem die Kontinuitätstheorie schon ab 1947 herrschte, konnte sie auch schon bald im Strafrecht verhängnisvolle Entwicklungen begünstigen und ermöglichen. (Nur das BVerfG vertrat 1962 die Theorie vom Untergang des nat.-soz. deutschen Staates).
Neben der Kontinuitätsfrage diente nach dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher die Frage des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots als Waffe, um die weiteren Prozesse als illegitim abzustempeln. Sie sollten – nicht nur aufgrund dieses Arguments – als Vergeltung seitens der Sieger, nicht als echtes justizförmiges Verfahren erscheinen. Es sei dazu nur so viel gesagt, daß das Rückwirkungsverbot vor staatlicher Willkür schützen, nicht aber staatliche Verbrechen straffrei stellen soll. Zudem muß im Völkerrecht die Schaffung der Strafnormen und der Institution, die sie anwendet, nicht daran scheitern, daß sie erst ad hoc erfolgt. Das Völkerrecht beruht auf Gewohnheit und Verträgen, die sich entwickeln. Hielte man im Völkerstrafrecht ein Rückwirkungsverbot für unabdingbar, so könnte es eine solche Entwicklung nicht geben. Es ist ein völkerrechtlicher Fortschritt, den friedensgefährdenden Faktor nicht durch eine schwer zu steuernde Debellatio, sondern durch ein Rechtsverfahren auszuschalten. Sicher diente diese Justiz ohne Rückwirkungsverbot dem Recht. Daß von deutscher Seite das Gegenteil offensiv vertreten wurde, mutet angesichts der Abschaffung des Rückwirkungsverbots durch die Nazis im Jahre 1935 ausgesprochen peinlich an.
Über den Bruch von 1945 und das von der Besatzungsmacht planierte Terrain hinweg gab es also eine geistige Brücke. Sie war viel tragfähiger als man es angesichts der politischen Ziele und besatzungspolitischen Maßnahmen vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht vermuten sollte. Die Bestrebungen hin zu einer Restauration des überlebten Systems könnte man als „subversives Relativieren“ bezeichnen.
Dem rechtsphilosophischen Relativismus Radbruchs war man keineswegs zugeneigt. Wenn es aber galt, etwas aus dem alten Recht zu reaktivieren, war das Relativieren eine sehr nützliche Methode. Dann wurde an ganz spezielle Fragen angeknüpft und für das Problem, ob es sich bei einer alten (nicht ausdrücklich aufgehobenen) Vorschrift um typisches NS-Recht handele, alles an Auslegungskunst aufgeboten, was dem Ziel der Erhaltung der Vorschrift diente. Während Radbruch durch seinen Relativismus eine Lösung angesichts der gegebenen und unabänderlichen gesellschaftlichen und geistigen Vielfalt suchte, ist das Relativieren der alten Ordnung letztlich deren Verharmlosung, ja deren Legitimierung. Das Radbruchsche Konzept führt zwar zu Positivismus, der aber durch Rechtsstaatlichkeit vor Versteinerung gesichert wird und dem in der Demokratie die Pluralität, die geistige Artenvielfalt, gegenübersteht. Demgegenüber konnte das Relativieren der „völkischen Rechtsordnung“ zu einer weitgehenden Restauration i. S. der konservativen Revolution führen. Einige Charakteristika der Entwicklung seien kurz stichwortartig angeführt:
Daß die grundlegende Erneuerung des Rechts in den Jahren ab 1945 mithin von Anfang an nicht stattgefunden hat, ist maßgeblich auch durch eine Kontinuität des Denkens von Personen bedingt, die über den Bruch von 1945 ihre Aktivitäten entfalten durften.
Die Verfolgung von NS-Verbrechen wird oft automatisch mit der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Verbindung gebracht, obwohl sie erst Ende 1958 gegründet wurde und eine reine Vorermittlungsbehörde ist. Sie sollte zuständig sein, wo es nach der StPO keine Zuständigkeit gab, insbesondere bei Tatorten außerhalb der Bundesrepublik, und ermitteln, wo es noch keinen ausreichenden Anfangsverdacht gab, d.h. unabhängig von einem solchen Einheiten und Dienststellen systematisch überprüfen. Man war also endlich so weit, diese Einheiten unter einen Generalverdacht zu stellen und nicht etwa aus ihren Bezeichnungen als Polizei- oder Verwaltungsbehörde auf klassische Polizei- oder Verwaltungstätigkeiten zu schließen. Die Gründung der Zentralen Stelle war die Konsequenz aus der Erfahrung, daß ein Massenverbrechen nur zufällig zu einem Strafverfahren, nämlich zu dem sog. Ulmer Einsatzgruppenprozess, geführt hatte. Zwar hatte es bereits 1950 vor dem LG Würzburg einen Einsatzgruppenprozess gegeben. Damals wollte aber offenbar niemand die naheliegende Frage stellen, ob dieses Verbrechen denn ein Einzelfall gewesen sein könne. Hätte man die Nürnberger Prozesse vollständig und unzensiert veröffentlicht und diese Akten sowie die Archive schon zuvor systematisch ausgewertet, wären eine große Anzahl von Massenverbrechen schon in den frühen fünfziger Jahren aufgeklärt worden.
Zur flächendeckenden Durchkämmung der Einheiten gehörte auch die Erfassung aller anfallenden Daten über Personen mit ihren Funktionen und Einheitszugehörigkeiten, Daten über die Einheiten mit ihrem Personal, ihrer Eingliederung und ihren Stand- und Einsatzorten und schließlich eine Erfassung der Orte, so daß man vom Ort her Einheiten und Personen finden konnte. Zu den festgehaltenen Daten gehörten neben deren Fundstelle (Aussage, Dokument) auch die Angabe über die Eigenschaft als Zeuge oder Beschuldigter und über den Stand des Verfahrens. Hierzu waren alle eigenen Vernehmungsprotokolle, Unterlagen aus Archiven und die von Sonderkommissionen und Staatsanwaltschaften übersandten Aussagen und Schlußverfügungen auszuwerten. Neben dieser Kartei waren die früheren und die neuen Verfahren zu dokumentieren: Beschuldigte – Tatvorwurf – Verfahrensschicksal (Abtrennung, Verbindung, Einstellung, Urteil, Rechtsmittel u.s.w.). Hierzu hatten die Staatsanwaltschaften alle Unterlagen zu übersenden. Schließlich wurden alle anfallenden Dokumente aus Archiven des In- und Auslandes, viele alliierte Prozesse und Aussagen von allgemeinem Interesse gesammelt (Dokumentation) und über eine Kartei erschlossen. Aufgrund dieser Datensammlungen kann die Zentrale Stelle ihre Vorermittlungen effektiver führen und laufende Ermittlungen der Staatsanwaltschaften unterstützen.
Wenn die Gründungsgeschichte berichtet wird, ist meist nur vom Ulmer Einsatzgruppenprozess die Rede.
Es ist aber interessant, daß der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer dabei eine Rolle gespielt hat. Er machte dem hessischen Ministerpräsidenten. und Justizminister Zinn einen entsprechenden Vorschlag und inspirierte einen Artikel mit dem Titel „Zentrale Ermittlung“ im September 1958 in der Zeitschrift „Die Gegenwart“. Zwar kam es schon bald zu zahlreichen Abgaben von Verfahren an die Staatsanwaltschaften, aber es gab auch viele Hindernisse und Behinderungen. So wurden zunächst im Zeichen des Kalten Krieges keine Auswertungen von Archiven im Ostblock zugelassen. Ein sowjetisches Angebot, Beweismaterial zur Verfügung zu stellen, wurde abgelehnt. Vielleicht waren die „Braunbücher“ der DDR eine Reaktion hierauf. Es kam vor, daß Staatsanwälte auf behördenintern gebilligten Privatreisen nach Polen auf unterster Ebene Kontakte zur polnischen Justiz aufnahmen. Eine erste effektive Lücke im „Eisernen Vorhang“ kam auf ungewöhnliche Weise zustande. 1960 erschien Fritz Bauer mit dem Sohn eines bekannten alten Nazis bei der Zentralen Stelle. Dieser hatte beste Beziehungen zu politischen Kreisen Polens und war schon im Besitz äußerst wichtiger Dokumente. Er konnte dann nach entsprechender Absprache noch längere Zeit wichtige Unterlagen beschaffen, so über den Gaswageneinsatz in Chelmno, die Aktion Reinhard und Vernichtungslager. Die Quelle versiegte schließlich, weil unser Mittelsmann zwischen die Fronten innerpolnischer Auseinandersetzungen geriet. Aber es wurde bald eine Möglichkeit gefunden, auf unauffällige Weise weiteres Material aus Polen zu bekommen, und zwar durch Auswertung der Archivalien in der Westberliner polnischen Militärmission. Erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wurden dann offizielle Auswertungsreisen in die Ostblockländer und Rechtshilfeverkehr mit diesen möglich. Einem Spitzenjuristen der BRD, dem ehemaligen Oberbundesanwalt Güde, blieb es allerdings vorbehalten, den „Spieß herumzudrehen“ und die belastenden Materialien als Bringschuld der osteuropäischen Länder zu bezeichnen, die sie der Bundesrepublik allzulange vorenthalten hätten. Nun sei die Verwertung dieser Unterlagen aber verwirkt. Sein Fazit: „Aber unsere Idioten fahren hin und holen die Dokumente ab“. Güde, das sei an dieser Stelle erwähnt, trat in der letzten Verjährungsdebatte 1979 im Bundestag mit der interessanten Ansicht hervor, die Amerikaner hätten zweimal in den „deutschen Rechtsraum“ eingegriffen, erst durch die Nürnberger und weiteren Prozesse, dann durch ihre Begnadigungs- und Entlassungspraxis anfangs der fünfziger Jahre. So etwas konnte ausgesprochen werden, ohne daß ihm entgegengehalten worden wäre, der zweite „Eingriff“ sei, was eigentlich jeder wissen konnte, auf massiven deutschen Druck geschehen.
Die Zukunft der Aufklärung der NS-Verbrechen wurde anfangs der Sechziger allenthalben und auch bei der Zentralen Stelle, d. h. durch deren ersten Leiter, völlig falsch eingeschätzt. Man unterschätzte die Versäumnisse der Fünfziger und überschätzte die bisherige Arbeit. Aber bereits Mitte der Sechziger zeichnete sich die Notwendigkeit ab, das Problem nicht durch Ignorieren, sondern durch verstärkten Einsatz, vor allem an Personal bei der Zentralen Stelle anzugehen. Ende der Sechziger waren dort fast 50 Juristen und etwa ein Dutzend Kriminalbeamte tätig; in den nächsten zehn Jahren sank die Zahl der Juristen wieder um etwa ein Drittel.
Es liegt nahe, eine quantitative Bilanz der NS-Verfahren zu versuchen, sie wäre aber irreführend. Die bloße Aufzählung der Ergebnisse der Verfahren ergäbe ein schiefes Bild. Es bliebe nämlich völlig unklar, inwieweit die Ergebnisse auf schon anfänglich vorhandene Beweisnot oder auf die vielfältigen Versäumnisse und falschen Weichenstellungen innerhalb und außerhalb der Justiz zurückzuführen sind. Das sind einerseits bestimmte fragwürdige Rechtsmeinungen, aber auch historisch-politische Sichtweisen, die für das Vorverständnis der Aufgabe bestimmend wirken, und schließlich Akte und Unterlassungen des Gesetzgebers. Bei der immer wieder hervorgehobenen deutlichen Abnahme von NS-Verfahren in den Fünfzigern ist zu bedenken, dass die zunächst hohen Zahlen auf die große Zahl von Taten zurückgingen, die am 8. Mai 1950 und am 8. Mai 1955 verjährten. Ausgangspunkt für eine Statistik müßten Opfer und Taten sein. Dabei ist an eine Ermittlung der Zahl der Taten gedacht, d. h. an die jeweils einem Täter oder einer Tätergruppe und den i.d.R. vorhandenen Befehlsgebern zuzuordnende abgrenzbare Tat von der Einzeltötung (z.B. sog. Sonderbehandlung eines Häftlings auf Weisung des RSHA) bis zu sog. Aktionen und ganzen Programmen von Tötungen, Verschleppungen und Deportationen, und dabei wiederum an die verschiedenen Ebenen und die Kooperationen auf der jeweiligen Ebene. Die Ermittlung dieser quantitativen Grundlage stößt auf enorme Schwierigkeiten. Dementsprechend kann die Zahl der Taten und Täter vorerst nicht angegeben werden. Sie wären aber die Bezugsgrößen für eine Statistik der Verfahren.
Da es diese Zahlen nicht gibt, kann man nur einzelne abschließende Verfügung oder Entscheidung kritischer Überprüfung unterziehen, diese Ergebnisse aber nicht in Prozenten von Erfolg und Mißerfolg darstellen.
Wenn man nicht weiß, ob ein Verfahren bei rechtzeitiger systematischer Aufklärung mit einer Verurteilung geendet hätte oder wenn man noch keinen Überblick hat, inwieweit fragwürdige Rechtsansichten oder falsche Einschätzungen der historischen Zusammenhänge zu Einstellungen und Freisprüchen geführt haben. Ohne aufwendige Untersuchungen zu diesen Fragen sind alle Zahlenspiele verfrüht. Nur beispielhaft und für begrenzte Bereiche sind nicht-quantitative Aussagen darüber möglich, welche politischen Ursachen und juristischen Begründungen zu Einstellungen, falschen rechtlichen Einordnungen, Freisprüchen usw. geführt haben.Allerdings sind viele Fälle offensichtlich exemplarisch.
a) Widerstand
Der Widerstand nimmt für unsere Betrachtung eine Schlüsselstellung ein. Hätte man mit der Einordnung des NS-Staates als Unrechtsstaat ernst gemacht, dann wäre Widerstand gegen ihn als Negation der Negation eine klare Manifestation des Rechts und eine Desavouierung der dem alten Regime bis zuletzt und darüber hinaus treu Gebliebenen gewesen. Das Thema Widerstand gegen den Nationalsozialismus steht daher am stärksten und ganz direkt mit der Frage der Kontinuität des Staates und des Rechtssystems in Zusammenhang. So lehnte etwa 1950 der Justizminister Dehler einen Antrag im Bundestag ab, Urteile der Terrorjustiz für nichtig zu erklären, weil er in einem solchen Gesetz eine Gefahr für das gesamte Gefüge der neuen Rechtsordnung sah. Damit hat der Repräsentant des Gesetzgebungsministeriums den durch das Grundgesetz vorgegebenen Wechsel der Grundlage des Rechts von der nationalsozialistischen zur freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung geleugnet. Ersichtlich wollten er und die anderen Gegner des Entwurfs keine allzu offenkundige Abgrenzung gegenüber dem NS-Recht - sie hätte ja auf anderen Gebieten eine Signalwirkung haben können. Konsequenterweise lehnte die Bundesregierung 1952 eine Bestimmung der Europäischen Menschrechts-Konvention ab, durch welche für Verletzungen der Menschenrechte eine Ausnahme vom strafrechtlichen Rückwirkungsverbot gemacht werden sollte. Gerade bei einer internationalen Regelung wäre eine Abweichung von diesem innerstaatlichen Rechtsgrundsatz möglich gewesen. Offenbar befürchtete man, es könnten Menschenrechtsverletzungen des NS-Regimes nachträglich der Schein der Legalität entzogen werden.
Auch in der Rechtsprechung zeigt sich ganz überwiegend diese Tendenz. Es gelang immerhin, 1952 eine Verurteilung des ehemaligen Majors Remer wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu erwirken. Dieser Vorsitzende der später verbotenen Sozialistischen Reichspartei, der bei der Niederschlagung der Verschwörung des 20. Juli 1944 eine Rolle gespielt hatte, hatte die Widerstandskämpfer öffentlich als Hochverräter bezeichnet. In diesem Fall entschied sich auch der BGH dafür, daß das NS-Regime die Macht usurpiert habe und ihm gegenüber Hochverrat nicht habe begangen werden können. Die Entscheidung wurde allerdings nicht veröffentlicht. Diese Verteidigung des Rechts zum Widerstand ist übrigens ein Verdienst von Fritz Bauer, damals Generalstaatsanwalt in Braunschweig, später in Frankfurt am Main.
Beim Bundesgerichtshof hatte der Widerstand dann nur noch einmal eine Chance, und zwar 1952 im ersten Revisionsverfahren gegen Huppenkothen und Thorbeck. Beide waren Ankläger bzw. Vorsitzender eines Standgerichts, das im April 1945 die Widerständler Bonhoeffer, Canaris u. a. befehlsgemäß durch ein pseudogerichtliches Verfahren dem Tode überantwortet hatte. Der BGH erkannte das Verfahren als gesetzlos, das Urteil als einen in Urteilsform gekleideten Machtspruch und die Tötungen als willkürlich. Dabei klingen die Formulierungen aus Radbruchs berühmtem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ in der SJZ von 1946 an. Trotz dieser eindeutigen Vorgaben ignorierte das Landgericht bei der neuen Hauptverhandlung souverän alle diese Gesichtspunkte und sprach beide Angeklagte erneut frei. Die Begründung bezieht sich auf den Rechtszustand zur Zeit der Tat, der aus damaliger, nicht aus heutiger Sicht beurteilt werden müsse. So hatte der BGH 1954 nochmals Gelegenheit, sich mit der Sache zu beschäftigen. Aber trotz der eklatanten Missachtung seiner Vorgaben von 1952 fiel die Begründung des aufhebenden und zurückverweisenden Urteils ganz anders aus als man erwarten sollte. Der BGH vergaß seine seinerzeitigen Erwägungen und stützte die Aufhebung des zweiten Freispruchs nur auf die Tatsache, daß für die Todesurteile nicht die Bestätigung des Gerichtsherrn eingeholt worden war. Damit war impliziert, daß das Standgerichtsverfahren und die Vollstreckung der Todesurteile im übrigen keinerlei Bedenken unterlagen. Nunmehr bezog sich aber das Landgericht auf die BGH-Vorgaben aus dem ersten Revisionsurteil und kennzeichnete das Standgerichtsverfahren als nicht auf Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit gerichtet und das Urteil nicht als unabhängigen Richterspruch, sondern als Vernichtung von Gegnern. Merkwürdigerweise hielt es das LG für nötig und richtig, im Gegensatz dazu festzustellen, das Verfahren habe minimalen Zulässigkeitserfordernissen entsprochen und das Urteil sei in Übereinstimmung mit den damaligen Vorschriften ergangen. Da nun beide Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurden, ging das Verfahren ein drittes Mal in die Revision. Der Vorsitzende des SS-Standgerichts wurde freigesprochen. Das Urteil gegen den Ankläger wurde bestätigt, weil er das Urteil hatte vollstrecken lassen, ohne die Bestätigung des Gerichtsherrn einzuholen. Der BGH anerkannte ein Recht des NS-Staates auf Selbstbehauptung; deshalb könne man ihm nicht ohne weiteres das Recht absprechen, die dazu nötigen Gesetze zu erlassen. Man müsse die Tat unter Berücksichtigung der damaligen Gesetzeslage und sonstigen Gegebenheiten beurteilen, nicht aus heutiger Sicht. Der BGH befand sich damit in einer solchen Übereinstimmung mit der Meinung in der Bevölkerung, daß man ironisch sagen könnte, hier habe tatsächlich der „Volksgeist“ im Sinne Savignys gesprochen.
Der BGH hat sich um diese Linie dann in weiteren Entscheidungen „verdient“ gemacht und ist davon erst nach Jahrzehnten abgerückt.
b) Täterschaft und Beihilfe, Abgrenzung und Akzessorietät
Eines der problematischsten Kapitel im Strafrecht überhaupt und besonders bei der Einordnung von NS-Verbrechen ist die Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe.
Eigentlich konnte man sich nach dem II. Weltkrieg darauf verlassen, daß Täter jedenfalls der ist, der die Tat eigenhändig ausführt. Der BGH war nämlich von der Rechtsprechung des Reichsgerichts abgerückt. Auf das Interesse am Taterfolg – oder den animus – sollte es bei Eigenhändigkeit nicht mehr ankommen. Obwohl diese Auffassung des BGH durch veröffentlichte Urteile bekannt war, verurteilten die Tatgerichte, wenn es um NS-Verbrechen ging, trotz eigenhändiger Tatausführung nur wegen Beihilfe, was der BGH durch Revisionsurteile, die unveröffentlicht blieben, nicht beanstandete. Man muß eben nicht nur die höchstrichterliche Rechtsprechung kennen, sondern auch wissen, was geht ... Durch das sog. Staschynskij-Urteil (1962) signalisierte der BGH, daß es bei der Ausführung verbrecherischer Befehle der Staatsmacht bei eigenhändiger Tatausführung sowohl Fälle von Beihilfe als auch von Täterschaft geben könne. Allerdings stellt der BGH in der Beschreibung der Fälle, in denen Täterschaft anzunehmen ist, durchaus eine für viele typische NS-Verbrechen passende Charakterisierung zur Verfügung, wie er umgekehrt bei der Beihilfe eine Umschreibung vorgab, die für NS-Verbrechen, insbesondere Massenverbrechen, völlig untypisch ist. Für Fälle der Täterschaft führt er aus: „...wer in seinem Dienst- und Einflußbereich dafür sorgt, daß solche Befehle rückhaltlos vollzogen werden...oder dabei anderweitig einverständlichen Eifer zeigt...kann sich deshalb nicht darauf berufen, nur Gehilfe seiner Auftraggeber zu sein". Das passt nicht nur auf die zahllosen SS-Führer in den Stäben der EG und EK und auf die von ihnen beauftragten Führer größerer und kleinerer Trupps, sondern auch auf die Leiter der stationären Polizeidienststellen und deren Leiter der Abteilungen III, IV und V. Es gibt nur sehr selten Fälle, in denen man den Eindruck haben könnte, diese SS-Führer und Polizeibeamten hätten es an Eifer und Professionalität fehlen lassen. Der „rückhaltlose Vollzug“, der „einverständliche Eifer“ sind eigentlich fast immer offenkundig, und es wäre ein Zeugnis von Ahnungslosigkeit, wollte man darüber hinaus noch nach besonderen Hinweisen für Rückhaltlosigkeit forschen, obwohl es diese zusätzlich auch noch zuhauf gibt, etwa in Gestalt von Beurteilungen in Personalakten und von Begründungen für Vorschläge zur Auszeichnung und Beförderung in Akten der Einheit. Überdies stehen die Taten regelmäßig in einer langen Reihe gleichartiger oder ähnlicher Vorgänge. Deshalb erfordert die Tätigkeit eine dauernde konsequente Unterdrückung menschlicher Regungen, gewissermaßen eine Selbstüberwindung zur „Pflichterfüllung“, eine Haltung, die – wenn man nicht von Natur aus schon Lust am Morden, oder abgrundtiefen Hass auf Andersartige oder Fremde mitbringt – nur durch eine völlige Identifikation mit den Zielen der Befehlsgeber zu erreichen ist. Denn niemand begeht monatelang mit innerem Vorbehalt (sozusagen ohne Rückhaltlosigkeit bzw. ohne einverständlichen Eifer) oder auch nur unbeteiligt ganze Serien von Massenmorden an Menschen jeden Alters, ohne Rücksicht auf vermutete oder fingierte Gefährlichkeit und unter regelmäßig unmenschlichsten Umständen (Prügel, Hunger, Durst, Täuschung über Absichten u.s.w.). Widerstrebend ist ein solcher Täter allenfalls bei der ersten Tat, keinesfalls in Serie. Die Passage im Staschynskij-Urteil über Täterschaft ist also geradezu wie auf NS-Massenverbrechen zugeschnitten. Aber diese Möglichkeit, unter Berufung auf den BGH zu einer Verurteilung wegen Täterschaft zu kommen, wurde nicht wahrgenommen.
Für die Verurteilung wegen Beihilfe enthielt das Urteil folgende Vorgabe: „Anders kann es bei denen liegen, die solche Verbrechensbefehle mißbilligen und ihnen widerstreben, sie aber gleichwohl aus menschlicher Schwäche ausführen, weil sie der Übermacht der Staatsautorität nicht gewachsen sind und ihr nachgeben, weil sie den Mut zum Widerstand oder die Intelligenz zur wirksamen Ausflucht nicht aufbringen, sei es auch, daß sie ihr Gewissen vorübergehend durch politische Parolen beschwichtigen und sich vor sich selbst zu rechtfertigen suchen“. Offenbar ist der BGH selbst der Meinung, eine Beschwichtigung des Gewissens könne nur vorübergehend angenommen werden, ein dauerndes verbrecherisches Funktionieren müsse also den Schluß auf die Identifikation mit dem verbrecherischen Befehl nahelegen. Der BGH will hier die umgekehrte Situation wie bei der Täterschaft umschreiben. Nur kommt diese Beschreibung für die Beihilfe bei den Einsatzkommandos und Polizei-Bataillonen wiederum nicht vor, es sei denn entsprechend dem oben Gesagten, bei der ersten Konfrontation mit der entsetzlichen Wirklichkeit. Entsprechendes gilt für die Variante der Schwäche gegenüber dem übermächtigen Staat und dem fehlenden Mut zum Widerstand. Auch hier ist es schlechterdings abwegig, sich einen SS-Führer vorzustellen, der Tag für Tag Erschießungen, „Dorfüberholungen“ oder „Ghetto-Aktionen“ befiehlt, organisiert oder leitet und dabei ständig an Widerstand denkt, wobei er jeweils feststellt, daß er gegen den übermächtigen Staat nichts ausrichten kann. Wenn er, statt sich wegzumelden, lieber weiter mitmacht, dann kann er die Tätigkeit nicht so empfunden haben, daß er ständig an der Ohnmacht, keinen Widerstand leisten zu können, litt.
Die Landgerichte setzten sich mit diesen Vorgaben des BGH übrigens gar nicht auseinander; sie wären wohl auch in Schwierigkeiten gekommen, denn für die meisten Fälle waren diese Richtlinien dann kontraproduktiv, wenn man ein Verhalten als Beihilfe würdigen wollte. Die Begründungen begnügen sich – wie zuvor auch – damit, stereotyp Hitler, Himmler und Heydrich als Täter zu bezeichnen und beim Ausführenden Hinweise zu vermissen, er habe die Tat als eigene gewollt. Dies hätte übrigens vorausgesetzt, daß man eine alleinige intellektuelle Täterschaft des Führungspersonals in jedem Einzelfall begründet. Bevor die eigentliche „Endlösung“ veranlasst wurde - das war etwa in der ersten Dezemberhälfte 1941 und wurde wohl erst nach der „Wannseekonferenz“ ab Februar 1942 wirksam – vor dem „Endlösungsbefehl“ also, gab es jedoch regional systematische Vernichtungen in den besetzten Gebieten, bei denen die Befehlshaber sehr viel Eigeninitiative entwickelten und sicher als Täter anzusehen sind. Insoweit ist man oft an den historischen Tatsachen vorbeigegangen. Für die später nach Programm ablaufende Vernichtungsaktionen, bei denen es sicher intellektuelle Täter in der Führungsspitze gegeben hat, wäre gleichwohl eine Auseinandersetzung mit der Frage angebracht gewesen, warum die durchführenden Befehlshaber nicht aufgrund ihrer verantwortungsvollen Position und weil sie sich dem Programm durch Einsatz ihrer Führungsqualitäten zur Verfügung gestellt hatten, Mittäter waren
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Akzessorietät
Nachdem sich die „Gehilfenrechtsprechung“ bei NS-Verbrechen allgemein durchgesetzt hatte, wurde 1968 durch eine unscheinbare und unbemerkte Änderung im Allgemeinen Teil des StGB eine sehr wirkungsvolle „flankierende Maßnahme“ getroffen.
Bis dahin war die Akzessorietät der Teilnahme in § 50 StGB so geregelt, daß für den Teilnehmer die Strafdrohung für den Haupttäter galt, die Strafe jedoch gemildert werden durfte. Das am 1. 10. 1968 in Kraft getretene EGOWiG – ein typisches Artikelgesetz – änderte § 50 Abs. II in der Weise, dass die Milderung nach den Regeln für die Strafbemessung für beim Versuch gemildert werden musste, wenn beim Teilnehmer persönliche Merkmale, die die Strafbarkeit begründeten, also z. B. der niedrige Beweggrund beim Mord, fehlten. Die Höchststrafe für den Mordgehilfen war also in diesen Fällen nicht die lebenslange Freiheitsstrafe, sondern eine solche von 15 Jahren. Dies war so zu verstehen, daß auch die für die Verjährung maßgebende Strafdrohung in diesen Fällen nur 15 Jahre betrug. Damit war insoweit durch die Neufassung von § 50 Abs. II Verjährung rückwirkend bereits am 8. Mai 1960 eingetreten. Dieser Effekt war natürlich nur auf dem Hintergrund der verfehlten Beihilfe-Rechtsprechung wirksam.
Um die Änderung hat es viele Spekulationen gegeben. Es liegt jedenfalls sehr nahe, daß man diese einzelne Änderung im Allg. Teil des StGB bewußt vorgezogen und im EGOWiG untergebracht hat. Alle anderen Änderungen des Allg. Teils wurden nämlich erst im Sommer 1969 beschlossen und traten nach einer Frist von fünf Jahren in Kraft. Ein einleuchtender Grund für die gezielte Herausnahme der Änderung von § 50 Abs. II ist bisher nicht bekannt geworden.
Die Folge der Regelung war vor allem, daß die Staatsanwaltschaft Berlin die 18 anklagereifen Verfahren gegen 300 ehem. Angehörige des Reichssicherheitshauptamts fast alle wegen Verjährung einstellte. Allerdings wäre durchaus noch zu fragen, ob denn wirklich alle Beschuldigten, die in den Genuß des neuen § 50 Abs II StGB kamen, nur Gehilfen waren und ob sich im Einzelfall nicht objektive Mordmerkmale feststellen ließen, bei denen dann die Neuregelung nicht zum Zug gekommen wäre.
Die Judikatur zum Anstaltsmord präsentiert sich als dogmatische Achterbahn. Sie kreist um die Verteidigung der angeklagten Ärzte die etwa so lautete: „Ich war wie viele Kollegen und Kapazitäten der Überzeugung, daß die Tötung der Patienten diese von schweren Leiden erlöse und einem sinnlosen Dahinvegetieren ein Ende bereite, also eigentlich humaner sei als das Lebenlassen. Besonders das Buch von Binding und Hoche „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ hat mich überzeugt. Ich habe den Fachleuten des Gutachterausschusses vertraut, daß ihre Beurteilungen der Patienten richtig seien. Im übrigen war ich ständig bemüht, so viele Patienten wie möglich zu retten, und habe auch viele gerettet. Hätte ich diese Tätigkeit aufgegeben, hätte ich nicht mehr dafür sorgen können und mein Nachfolger hätte das Programm ausnahmslos durchgeführt. Durch mein Verbleiben war ich allerdings genötigt, viele Patienten zugunsten anderer zu töten.“
In den ersten Jahren nach dem Krieg kam es zu einer Reihe von Verurteilungen. Die Gerichte prüften das Vorliegen von Unrechtsbewußtsein, denn es begann sich gegenüber dem Reichsgericht die Auffassung durchzusetzen, daß es auch da eine Rolle spielen könne, wo es nicht zum Tatbestand gehört. Es hätte also evtl. ein entschuldbarer Verbotsirrtum vorliegen können. Die Gerichte kamen aber regelmäßig zu dem Ergebnis, das Unrechtsbewußtsein sei vorhanden gewesen. Es wurde sogar die Auffassung vertreten, bei schweren Verbrechen wie Mord und Totschlag sei es immer vorhanden.
1948 gab es eine Tendenzwende in der Frage des Unrechtsbewußtseins. Der Kuriosität halber sei hier eine Meinung erwähnt, die nicht direkt etwas mit der Frage des Unrechtsbewußtseins, wohl aber mit der Frage zu tun hat, wie mit der Situation der rettenden Mörder umzugehen sei. Hans Welzel, der bekannte Strafrechtler und Rechtsphilosoph, der auch sonst mit dogmatischen Innovationen die rechtliche Würdigung der NS-Zeit im Sinne des Zeitgeistes steuerte, stellte 1948 allen Ernstes die Frage, ob jemand, der die Zahl der zu Tötenden verringere, überhaupt den Tatbestand des Mordes an den Getöteten verwirkliche. Das ist nur dann nicht abwegig, wenn man die tatsächlich geschehenen Morde in solch zwingendem Maß als unvermeidlich betrachtet, daß sie dem Täter nicht zugerechnet werden können, also als feststehend ansieht, ein Arzt tue niemals etwas wider sein Berufsethos, wenn aber durch ihn doch Tötungen vorkämen, so müßten sie von ihm als völlig willenloses Werkzeug begangen worden sein, das nicht selbst im Sinne des Strafrechts handelt. Das wäre dann die Generalabsolution für alle Tötungsärzte und alle Täter der von der NS-Führung angeordneten Massenmorde, bei denen es ja i.d.R. keine Möglichkeit der Rettung eines Teils der Opfer gab. Denn konsequenterweise müßte man auch sagen: wenn ich keine Chance habe, einen Teil der vorgesehenen Opfer zu retten, so ist das mir nicht anzulasten, allzu perfekt war die Maschinerie der Ausrottung. Mir scheint dieser Diskussionsbeitrag Welzels symptomatisch nicht nur für den allgemeinen, sondern auch für den juristischen Zeitgeist.
Eine ähnlich extreme Auffassung wurde schon zu Anfang des Jahres 1948 von H. v. Weber vertreten: Man müsse den großen Mut anerkennen, der dazu gehört habe, in einer Stellung auszuharren, um Befehle hemmend auszuführen und Unheil zu verhindern. Bei solchen Konflikten könne die Rechtsordnung keinen Maßstab geben, sie sei nicht zuständig (!). Ein Entschluß, der nach ernster Gewissensprüfung gefaßt sei, sollte nicht strafrechtlicher Beurteilung unterworfen werden. Auch hier wieder eine radikale Auffassung; allerdings hätte sie Ermittlungen nicht ausschließen können, denn mindestens die ernste Gewissensprüfung hätte untersucht werden müssen.
Einem Landgericht erschienen aber diese Ausführungen ein halbes Jahr später brauchbar, und es fand doch auch tatsächlich einen tragischen Pflichtenkonflikt, der zu einem persönlichen Strafausschließungsgrund führen müsse. Also Freispruch für 1000 Morde.
Ein anderes Landgericht leitete aus – angeblicher – Pflichtenkollision sogar einen Rechtfertigungsgrund ab. Dies hatte zwar in der Revision beim OGH für die britische Zone keinen Bestand, weil es sich um gleichwertige Rechtsgüter handele, die man nicht quantitativ gegeneinander abwägen könne. Aber der OGH hielt einen persönlichen Strafausschließungsgrund für möglich, wenn ein Täter im Dienst bleibe, um zu verhindern, daß er einem willfährigeren Arzt Platz mache. Es ist kaum vorstellbar, daß ein Arzt in einer Klinik absehen kann, wie die Arbeit weitergeführt wird, wenn er sich versetzen läßt. Denn vor allem die Wirkung seines Verhaltens ist von ihm nicht abzuschätzen. Aber nicht nachprüfbare Einlassungen kann der Arzt natürlich abgeben, wenn schon bekannt ist, worauf es dem Gericht ankommt. Zwei Landgerichte fanden dann tatsächlich die Voraussetzungen für den vom OGH vorgegebenen persönlichen Strafausschließungsgrund.
Die Auffassung des OGH wurde abgelehnt, aber nicht mit der Folge daß man zur früheren Rechtsansicht zurückkehrte. Der BGH mußte zwar, als er über eine erneute Revision im Fall des OGH zu entscheiden hatte, die Auffassung vom persönlichen Strafausschließungsgrund und die Ablehnung eines rechtfertigenden übergesetzlichen Notstandes übernehmen, er entwickelte jedoch zugleich für diese Fälle eine spezielle neue Verbotsirrtumslehre: Wenn jemand im Widerstreit zwischen Gesetz und Gewissen dem Gewissen folge, könne ihm dann kein Schuldvorwurf gemacht werden, wenn er sein Gewissen nach dem Maß seiner geistigen und sittlichen Kräfte angespannt habe. Die Entscheidung des BGH hatte drei entsprechende Freisprüche wegen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrundes zur Folge: Die Angeklagten betrachteten ihr Verhalten nicht als Unrecht, weil sie möglichst viele Patienten nicht ermordet hatten, und die Gerichte fanden dazu die entsprechenden Tatsachen.
Schließlich gelangte man zum ganz normalen Verbotsirrtum. 1953 entschied das LG Göttingen den Fall zweier Leiter einer sog. Kinderfachabteilung, die 136 bzw. 60 Kinder umgebracht hatten. Sie wurden von der Anklage des Totschlags freigesprochen.
Zunächst führt das LG aus, die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sei schon seit dem Altertum diskutiert worden und zitiert einige Befürworter. Es weist weiter auf entsprechende Diskussionen auch in anderen Rechtsstaaten sowie auf das Buch von Binding und Hoche hin. Die Angeklagten hätten nicht gewußt, daß die Tötungen nicht in dem geordneten Verfahren nach Binding-Hoche vonstatten gegangen seien, so als seien die Tötungen dann nicht zu beanstanden. Außerdem hätten sie Mitleid mit den Kindern gehabt.
Erst im Mai 1987 kam es wieder zu einer Verurteilung von zwei Ärzten wegen Anstaltsmords (Beihilfe!), die bereits 1967 wegen Verbotsirrtums freigesprochen worden waren. Das Urteil war nicht rechtskräftig geworden. In den 20 Jahren dazwischen praktizierten die Ärzte in „verhandlungsunfähigem“ Zustand. Nun wurde der Verbotsirrtum nicht mehr anerkannt. Die Entwicklung war damit wieder da, wo sie 40 Jahre zuvor begonnen hatte.
Es lohnt sich, auf eine spezifische Argumentation in dem oben erwähnten Göttinger Urteil einzugehen. Das methodisch Bedenkliche liegt darin, wie die Bewertung des kriminellen Handelns relativiert wird. Man macht einen Streifzug durch die Geschichte von etwas, das man Euthanasie oder Vernichtung lebensunwerten Lebens nennt, was aber nur sporadisch und in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen theoretisch erörtert wurde und nie offizielle Praxis war, bevor die Nazis es so extensiv umsetzten, daß der Ausdruck Euthanasie ein zynischer Euphemismus wurde. Es wird damit unter Bezug auf ein paar prominente Namen der Geistesgeschichte sehr vage insinuiert, es gebe so etwas wie eine folgerichtige Entwicklung eines diskutablen Gedankens, der irgendwann in der Moderne eine wissenschaftliche Ausprägung erfahren habe. Auf diese Weise wird allein die Tatsache, daß in eine bestimmte Richtung gedacht worden war, zu einem Ausgangspunkt, dessen Grundlage nicht mehr in Frage gestellt wird: Da gibt es etwas, was berücksichtigt werden muss; die Frage ist nur noch, wie und an welcher Stelle die Grenze zwischen zulässig und unzulässig gezogen wird. Diese Relativierung ist der methodische Hintergrund für den Schluß des Gerichts, der Lebensschutz könne nicht absolut gelten und nicht sozusagen menschenrechtlich über dem positiven Recht stehen.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass ein Mediziner bereits 1947 auf diese Falle aufmerksam gemacht hatte. Die Ärzteschaft hatte den Report von Mitscherlich und Mielke über den Nürnberger Ärzteprozess erhalten, diskutierte ihn aber kaum, und wenn, dann eben auch abwiegelnd und relativierend. Viktor von Weizsäcker reagierte darauf mit einer kleinen Schrift. Er sagt, in Nürnberg habe ein auch sonst allenthalben verbreiteter Geist mit auf der Anklagebank gesessen. Der bestehe in der Einstellung, „an sich“ seien „Euthanasie“ und Menschenversuche ärztlich begründbar, nur müssten bestimmte ethische Grenzen eingehalten werden. Dabei bleibe unklar, was dieses „an sich“ bedeute. Dieser philosophisch geschulte Arzt (er war Windelband-Schüler) macht also auf genau den oben beschriebenen Denkfehler aufmerksam. Ärzte haben als solche nämlich überhaupt nicht zu begründen, ob jemand vom Leben zum Tode gebracht oder Objekt eines Experiments werden soll. Dies haben nur die Sittenordnung und die mit ihr in Einklang zu bringende Rechtsordnung zu entscheiden. Ärzte können nur ihre stets vorläufigen Erkenntnisse über den Gesundheitszustand eines Menschen oder die Heilungsaussichten bestimmter Krankheiten als Information liefern. Die bei immer unsicherer werdender sittlicher Urteilsfähigkeit und immer geringerem Konsens entstehende Verlegenheit unserer Gesellschaft darf nicht dazu führen, die Entscheidung an Fachleute zu delegieren.
Durch diesen methodischen Fehler verschiebt sich die Darlegungs- und Begründungslast auf die falsche Seite, so wie wir es im Alltag kennen, wenn jemand mit der Frage „warum?“ eine Begründung verlangt, sich aber durch die Gegenfrage „warum eigentlich nicht?“ seinen Anspruch auf Begründung abkaufen und sich in einen ihm nicht zukommenden Begründungszwang bringen läßt.
d) Überleitungsvertrag und Zusatzabkommen
Schon bald nach Gründung der Zentralen Stelle begannen die ersten Vorermittlungen wegen NS-Verbrechen in Frankreich, 1961 wurde ein umfangreiches Sammelverfahren eingeleitet. In der Folgezeit leitete die Zentralstelle bei der Staatsanwaltschaft Köln ein Ermittlungsverfahren gegen den Chef der Verwaltungsabteilung des Militärbefehlshabers in Paris, Best, und einige Angehörige des BdS Paris ein. Es stellte sich jedoch durch eine Entscheidung des BGH vom 14. 2. 1966 (veröffentlicht in Heft 30 der NJW) heraus, daß das Überleitungsabkommen von 1952 ein Verfahrenshindernis bilden sollte. Im August 1966 und im April 1967 regte die Zentralstelle Köln beim Justizministerium von Nordrhein-Westfalen an, bei der Bundesregierung eine Änderung des Überleitungsvertrags zu erwirken. Das Auswärtige Amt wurde im April 1968 tätig, etwa ein halbes Jahr später stimmte das französische Außenministerium der Aufnahme von Verhandlungen zu. Der Zusatzvertrag wurde am 2. 2. 1971 geschlossen, trat aber zunächst nicht in Kraft.. Worum ging es beim Überleitungsvertrag und was sollte das Zusatzabkommen bewirken?
Im Zuge der politischen Westorientierung schloss die Bundesrepublik 1952 mit den drei westlichen Besatzungsmächten den „Generalvertrag“, der dann am 5. 5. 1955 in Kraft trat. Zu diesem Vertrag gehörte auch der „Vertrag zur Regelung von aus Krieg und Besatzung entstandenen Fragen“, kurz Überleitungsvertrag genannt. Durch ihn sollte sichergestellt werden, daß die Bundesrepublik alliierte Strafverfahren nicht revidierte, andererseits musste auch die bis dahin eingeschränkte deutsche Justizhoheit wieder hergestellt werden. Es ging also um eine Abgrenzung. Der § 3 des Vertrags enthielt im Buchstaben b) die Regelung, daß die Verfolgung von Taten, deren Untersuchung von einer der Mächte endgültig abgeschlossen war, der Zuständigkeit der deutschen Justiz entzogen blieb. Was bedeutete „endgültig abgeschlossen“? Es gab viele Einstellungsverfügungen französischer Militärgerichte (Ordonnances de Non-lieu), bei denen unklar war, ob sie von dieser Vorschrift erfasst wurden. Außerdem gab es 919 Abwesenheitsverurteilungen (Condannations par contumace). Der Bundesgerichtshof hatte zunächst differenziert. Später, nämlich mit der erwähnten Entscheidung von 1966, legte er die Vorschrift extensiv aus, endgültiger Verfahrensabschluß waren nun auch die Verurteilungen in Abwesenheit, die nicht materiell rechtskraftfähig und vollstreckbar sind. Solche Entscheidungen betrafen hauptsächlich die Deportationen aus Frankreich (etwa 70.000 Opfer) und die etwa 30.000 Tötungen, die von deutscher Seite als Repressalie oder Geiselerschießung bezeichnet worden waren. Betroffen waren viele ehemals und meist auch wieder hochrangige Juristen. Der BGH behauptete, Grund der Regelung sei die Weigerung der Bundesrepublik gewesen, die alliierten Urteile anzuerkennen; deren Unabänderlichkeit sie allerdings habe hinnehmen müssen; sie sei auf eine Mitwirkung im gemischten Gnadenausschuss beschränkt geblieben. Es ist dies eine offensichtlich unzutreffende Argumentation. Die symbolischen Abwesenheitsurteile sind keinesfalls endgültige Verfahrensabschlüsse, vielmehr hat im Fall der Ergreifung des Beschuldigten ein ordentliches Verfahren (Purgierungsverfahren) stattzufinden. Und ein deutsches Verfahren als Korrektur des Abwesenheitsurteils zu verhindern, wobei sich womöglich der Tatvorwurf bestätigt hätte, war sicher nicht die Ratio des Vertrags. (Die deutsche Justiz hätte dazu übrigens die französischen Akten benötigt!). In der Bundesrepublik hatte man andere, sehr wirksame Möglichkeiten, um die in Frage kommenden Personen vor einer Reise nach Frankreich zu warnen und damit eine Verurteilung zu verhindern. Soweit mir bekannt, hat es in Frankreich nur ein einziges Verfahren gegen einen in Abwesenheit verurteilten deutschen Reisenden gegeben; er wurde freigesprochen.
Wegen der Rechtsprechung des BGH mußte die Regelung des Überleitungsvertrags geändert werden, wenn man NS-Verbrechen in Frankreich verfolgen wollte. Dazu wurde, wie erwähnt, am 2. Februar 1971 das Zusatzabkommen mit Frankreich geschlossen. Das Ratifizierungsgesetz wurde immerhin schon nach einem Jahr in den Bundestag eingebracht, wo es bis zum Frühjahr 1975 lag.
Deutschland hat im Laufe der Geschichte der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit viele symbolische Ohrfeigen einstecken müssen; es waren jeweils die Stimulantien für den Fortschritt der Gerechtigkeit. Im Fall des Zusatzabkommens mußte der Symbolik allerdings dadurch Nachdruck verliehen werden, daß der Schlag ins Gesicht real beim Bundeskanzler vollzogen wurde.
Wenn man nach den Gründen für die lange Dauer des Ratifizierungsverfahrens fragt, genügt es zu wissen, daß der ehem.Botschaftsrat bei der deutschen Botschaft in Paris während der Besatzungszeit der FDP-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Achenbach war. In seiner Anwaltskanzlei arbeitete der frühere Chef der Verwaltungsabteilung beim Militärbefehlshaber in Frankreich, Best. Dessen späterer Verteidiger, Rechtsanwalt Grimm, war seinerzeit wiederum Achenbach-Mitarbeiter in der Pariser Botschaft gewesen.
1974 war also das Ratifizierungsverfahren tatsächlich richtig in Gang gekommen. Der Rechtsausschuss ließ ein umfangreiches Gutachten anfertigen und hörte den Frankreich-Referenten der Zentralen Stelle an. Die Ablehnung der Abgeordneten war deutlich zu spüren; sie glaubten immer wieder, sie würden nicht richtig informiert; ihre Fragen zeigten allerdings auch, daß sie die Expertise, die auf Informationen aus Ludwigsburg beruhte, nicht gelesen hatten. Am 30. Jan. 1975 stimmten der Bundestag und am 21. Feb. 1975 auch der Bundesrat dem Ratifizierungsgesetz zu. (Austausch der Ratifikationsurkunden am 9. April 1975). Ein Jahr später, nach der Klärung von Formalitäten auf dem großen Dienstweg, begann die umfangreiche Auswertung der französischen Akten in den Archiven der Ständigen Militärgerichte in Paris, Lyon und Bordeaux (45 Arbeitswochen von Jan. bis Dez. 1976). Aufgrund des nun frei gewordenen Weges und des Materials wurden drei Beschuldigte, ehemalige Angehörige des BdS Paris, anfangs der achtziger Jahre wegen ihrer Beteiligung an den Deportationen verurteilt. Danach wurde allerdings der noch weitgehend offene sog. Frankreich-Komplex auf Weisung des Generalstaatsanwalts in Köln von der Zentralstelle Köln zerschlagen, d. h. in viele Einzelverfahren aufgeteilt und an die jeweils für einen Beschuldigten zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben, welche diese Einzelverfahren allesamt einstellten.
Nach der Niederlage Deutschlands hätte auf eine Justiz im Dienste des totalitären Regimes eine demokratische Justiz und auf eine der völkischen Ideologie verpflichtete Rechtswissenschaft eine pluralistische, offene Rechtswissenschaft folgen müssen. Was folgte, war zunächst der unsichere Versuch zu einem demokratischen Neuanfang. Demokratie wurde jedoch bald immer mehr mit Antikommunismus gleichgesetzt, der eine alte Tradition hatte und unter der Ost-West-Spannung auch reale Nahrung bekam. Zweifelsfreie Antikommunisten aber waren die im NS-System bewährten Figuren und Menschen, die auf Bolschewisten geschossen hatten. Wer ein über den Antikommunismus hinaus gehendes Demokratieverständnis entwickeln wollte, war schon verdächtig. Demokratische Tugenden und Inhalte wurden auf alte Sekundärtugenden reduziert. Bei äußerer Wiederaufbauleistung konnte man Neubesinnung auf leere Rethorik beschränken. Nur rechtskonservatives Denken schien Sicherheit, vorgeblich gerade auch für die Demokratie zu bieten. Linke mussten sich anpassen, um nicht ins Abseits zu geraten. Demokratische Offenheit war das Experiment, vor dem man gern gehörte Warnungen aussprechen musste. Dieser kollektive Geisteszustand prägte die aufarbeitende Justiz politisch ebenso wie er die politische Strafjustiz prägte.
Die letzte Lebensphase Fritz Bauers, sein unter kaum erträglichen Anfeindungen geführter Kampf und sein als Opfer für die Sache wirkendes Ende, stehen paradigmatisch für diese Entwicklung.
Der Horizont dessen, was man im Justiz-Alltag unter juristisch einwandfreier Erledigung eines Verfahrens versteht, war zu eng, die Auslegung zugunsten der Angeklagten aber zu weit.
Das Verhältnis der Justiz zum gesellschaftlichen und politischen Leben war (und ist) einseitig: Bei den NS-Strafsachen trug sie der vox populi Rechnung. Es gibt in der Bevölkerung in Sachen NS-Verbrechen nicht das Rechtsbewusstsein im Sinn der Aufgabe „Verwirklichung des Rechts“ und „Erstreben von Gerechtigkeit“ als Bewährung einer eigenen raison d‘ etre und als Bewusstseinshintergrund der Rechtsprechung.
Von der Verfolgung der NS-Verbrechen bleibt ein immenser Fundus an Material, aus dem noch für viele gute und schlechte Bücher, Filme und Ausstellungen geschöpft werden kann. Es bleiben wenige beispielhafte Prozesse, einige mehr, deren Ergebnisse vom Kompromiss mit dem Zeitgeist zeugen und eine große aber nicht näher zu bestimmende Zahl von Nichtverurteilungen aus ganz verschiedenen Ursachen.
Immerhin bleiben - als Folge auch der justiziellen Aufarbeitung - die NS-Verbrechen im kollektiven Gedächtnis und werden weitere Versuche scheitern, die Selbstsuche der Deutschen durch Ablösung und Löschung dieser Hypothek zu einem Ziel zu bringen.
Ob allerdings die Fehlentwicklungen in der Justiz von der Justiz und von der Öffentlichkeit erkannt und richtig bewertet werden, ob man verstehen wird, daß diese Erkenntnis etwas mit dem Verhältnis der Menschen zum Recht und mit dem Zusammenhang von Recht und Politik zu tun hat, muss bezweifelt werden. Allzu nah liegt die Versuchung, den Umgang der Justiz mit den NS-Verbrechen von Politik und Geschichte zu isolieren und, wenn schon ein schweres Defizit anzuerkennen sein sollte, dieses mit dem Tod des letzten NS-Verbrechers und dem Abschluss des letzten NS-Verfahrens als erledigt und für die künftige Entwicklung des Rechtswesens als irrelevant zu bezeichnen. Denn sehr stark ist der Hang, sich auf die Schulter zu klopfen und nicht nur die positiven Ergebnisse der NS-Verbrechensverfolgung, sondern auch die Defizite als Erfolg, nämlich als Integrationsleistung zu bewerten.